Wer wackelt wozu am Gründungsmythos?

Eine Polemik

Unter der triumphierend klingenden Headline:

„Karl-Heinz Kurras war Kommunist:
Der Gründungsmythos der 68er wackelt“

wird in der SZ vom 26. Mai 2009 ein Pamphlet von Kurt Kister veröffentlicht, das als exemplarisch für die zugleich feige wie hinterhältige „Denkschule“ der als Funktionselite fungierenden „Plappernden Kaste“ beurteilt werden kann / muss. Man könnte darüber hinwegsehen, wenn es sich hierbei um einen Ausrutscher handelte, doch hechelt auch in diesem Falle der „seriöse“ Journalist Kister mit einer nur unmaßgeblichen Verspätung der bigott triumphierenden Skandalisierungsmaschine Boulevardpresse hinterher, was dem gebildeten Leser immer noch weh tut, was aber – denken wir hier nur an die in der SZ erschienenen Dabeigeschichten und Hofberichterstattungen über „Kofferbomber“ und die „Sauerlandgruppe“– leider nichts außergewöhnliches mehr darstellt und jetzt wirklich mal Saures, also eine professionelle Polemik verdient, die zumindest bei all denen, die wirklich denken können zu einem mehr oder minder großen Erkenntnisgewinn führen müsste….?

Dies genau lässt sich von dem hier kritisierten Kister-Elaborat – immanent beurteilt – nicht sagen, dessen Aussagewunsch in dem Satz zusammengefasst werden kann: die Alt-68er sind nicht nur Spinner gewesen, sondern sie sind es auch bis heute geblieben:

„Einige von ihnen leben davon, sich öffentlich über dies alles Gedanken zu machen; wenige sind bei den Nazis gelandet; die meisten lächeln etwas unsicher über das, was sie euphemistisch für intellektuelle Jugendsünden halten. Viele von ihnen allerdings wollen sich bis heute nicht geirrt haben, jedenfalls nicht grundsätzlich.“

„Intellektuelle Jugendsünden“, darauf also reduziert dieser studierte Sesselfurzer und gut besoldete Beckmesser die Denk- und Handlungsweisen von einigen Zehntausend Jugendlichen Ende der 60er Jahre, die – im Unterschied zu ihm – durchgängig ihre „bürgerliche“ Berufsperspektive gefährdet hatten, was z. B. daraus ersichtlich ist, dass die Regierung Brandt / Scheel Anfang der 70er eine Generalamnestie erlassen hat, durch die mehr als 6.000 wegen „Hausfriedensbruchs“, „Landfriedensbruchs“, „Aufruhrs“ und „Widerstands gegen die Staatsgewalt“ anhängige Verfahren kassiert werden konnten / mussten…. (Nicht ganz uneitel darf ich anmerken, dass die daraus resultierenden Verdienstausfälle der Verteidigung durch eine Klage des Rechtsantwalts Otto Schily abgewendet worden sind, der dazu meinen Prozess vor dem Landgericht Berlin heranzog, in welchem er  1969 dankenswerter Weise  als mein Pflicht-Verteidiger mitgewirkt hatte; das Urteil lautete übrigens: Weghorn bekommt 6 Monate auf Bewährung wegen Landfriedensbruchs und 100 Mark Strafe wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt. Na ja – eine sehr schmeichelhafte Beschuldigung für den „Revisionisten“ der FU Berlin!).

Und völlig unbestreitbar ist zudem, dass die rebellischen Studenten im „Westen“ einen mentalen Modernisierungsschub ausgelöst haben, der, das wissen wir heute, auch in der DDR und in Polen nicht unbemerkt geblieben ist. Dazu Marek Dutschke, der Sohn von Rudi Dutschke: „Die Ost-Berliner Machthaber hatten wohl durchaus große Angst davor, dass jener antiautoritäre Sozialismus, für den mein Vater stand, ihre Herrschaft in der DDR gefährden könnte.“ (SZ 27. 5. 2009)

„Vom sichren Port lässt sich´s gemächlich raten“, so geißelte schon der bürgerliche Rebell Schiller vor 200 Jahren den Spießbürger seiner Zeit, der ja im Nachhinein immer „alles besser weiß“ und „natürlich alles anders gemacht hätte“, wenn ihm, ja wenn ihm nicht „die Ungnade seiner späten Geburt in den Arm gefallen wäre“ (um mal einem besonders schönen schiefen Beispiel Raum zu geben)! Auch unser Herr Kister, der ganz offensichtlich keine zeitgeschichtliche Ahnung hat, macht aus seinem Hass auf die Hartnäckigen, auf die rebellisch Andersdenkenden, die sich „bis heute nicht geirrt haben wollen“(!), kein Hehl, wobei er andeutet, in welcher Richtung er Reuebekundung von mir und meinen Zeitgenossen erwartet:

„Der Schah war böse, die Berliner Polizei bewusst gewalttätig und der Staatsapparat, je nach historischem Standpunkt, post-  oder präfaschistisch. Auch 2009 wird zur Erklärung des 2. Juni 1967 noch gerne diese argumentative Einbahnstraße befahren.“

Ja, zum Teufel und Kunzelmann: worin bestand denn die Strategie der Berliner Polizeiführung wenn nicht in der Maßgabe, an diesem Abend vor der Berliner Oper – ich war in der Krummen Straße, als dort Benno Ohnesorg erschossen wurde – an den „Randalierern ein Exempel zu statuieren“?! Das ist doch historisch längst geklärt und hat doch schon damals zum Rücktritt des Regierenden Bürgermeisters geführt! Und dass der Staatsapparat bis in die Spitze mit HardcoreNazis und blutsbrüderlich verbandelten SS-Chargen durchsetzt gewesen ist, das weiß doch zumindest heute schon jeder SZ-Leser. Und dass das Schahregime im Iran eine Diktatur gewesen war, die 12 Jahre später beendet worden ist, das muss sich derweil doch auch bis zu Herrn Kister herumgesprochen haben. Was daran also ist eine „argumentative Einbahnstraße“? WAS will unser Kurtchen zum Einsturz bringen? Und WOZU sein Gezeter?!

Rhetorische Fragen, denn dies alles sind nur Nebenkriegsschauplätze auf der Schlachtplatte des Herrn Kister, der es – aus  nur ihm bekannten – persönlichen Gründen für nötig erachtet, eine „offensive (?!) Analyse“ jener „Spielarten von Linkssein“ zu fordern „denen etliche Menschen zwischen Hamburg und Freiburg damals anhingen“ – und dies, obwohl die damalige Weiterentwicklung der APO mit der terrroristischen Gesinnung des Todesschützen von Benno Ohnesorg nicht die Bohne zu tun hat. (Nebenbei bemerkt: reiner Boulevardpostillenstil ist die Stigmatisierung / Abstempelung des Opfermentalitäters Kurras in der Headline der SZ als „Kommunist“! Warum nicht gleich als „Jude“, war das doch für die Westberliner auch in 1967 jedenfalls immer noch das gleiche?!)

Kurras war ein Opfermentalitäter, ein Gleicher unter Seinesgleichen, ein Held des Berliner Bürgertums seiner Zeit! Und einzig auf die Verbreitung dieser – für die Altvorderen peinlichen – Erkenntnis kam es uns im Juni 1967 an! (Freddy Quinn singt 1966 WIR)

Da ich denke, dass das, was Kurt Kister unter einer „Analyse“ versteht (und was er selbst dazu beiträgt), als beispielhaft für die voluntaristisch verquaste „Denke“ der Plappernden Kaste angesehen werden darf / muss, stelle ich hier jetzt meine kritische Analyse seiner „Argumentation“ zur Diskussion:

1. Kister konstatiert richtig: „Ohnesorgs Tod (war) damals für die Bundesrepublik ein Ereignis von kaum zu übertreibender Bedeutung.“

2. Er gründet darauf einen unlogischen Vorwurf: „Und dennoch (!?) reagieren heute viele Veteranen und später berufene Sympathisanten der 68er Bewegung auf die Enthüllung von Kurras“ Vergangenheit so, als habe dies alles mit ihnen oder gar mit den von ihnen damals verfolgten Zielen nur wenig zu tun.“

3. weil sein erkenntnisleitendes Interesse darin besteht, dem von ihm ausgeguckten Personenkreis der Hartnäckigen eine reinzuwürgen: „Daraus spricht eine ebenso arrogante wie privat-deterministische Geschichtsbetrachtung: Es war alles so, wie wir heute denken, dass es war und eigentlich auch sein musste, denn sonst dächten wir heute ja nicht so.“

Wie sagt es der Volksmund so trefflich: „si tacuisses, philosophus mansisses / fuisses!“ Oder: „Der Stein, den du erhoben, wird auf deinen Fuß zurückfallen!“

Logischer Weise, also „eigentlich“, hat die Enthüllung einer SED-Mitgliedschaft des Todesschützen Kurras nichts, aber auch gar nichts mit der historischen Bedeutung des Tötungsereignisses zu tun, wird doch schließlich das Morden eines SS-Offiziers auch nicht dadurch erträglicher, dass er seinen Kindern Weihnachtslieder vorgegeigt und Johann Sebastian Bach „verehrt“ hat. Persönliche Motive, lieber Denker, sind biographisch interessant, historiographisch aber – sieht man von herrausragenden Persönlichkeiten einmal ab – völlig irrelevant.

Historiographisch bedeutsam sind im Falle Kurras allein die politisch-sozialen Tatsachen, die der Autor zwar andeutet, immerhin, die er jedoch bei seiner Phillipika dann einfach unter den Tisch fallen lässt:

„Der nicht sehr helle Kurras ist offenbar ein autoritärer Charakter und Waffennarr. Mit diesen Eigenschaften findet man sich tatsächlich ganz gut in repressiven Milieus verschiedenster Prägung zurecht. Kurras empfand ähnliche Sympathien für seine engere Heimat, also die autoritäre Westberliner Immer-noch-Nachkriegs-Polizei (…)“

Diese 30.000 Mann zählende Westberliner Nachkriegspolizei war in Wirklichkeit eine militärisch gedrillte Kasernierte Einsatzreserve der drei Westmächte, die im Vollzug der Notstandsgesetzgebung noch einmal aufgerüstet worden ist mit Panzerspähwagen, Maschinengewehren und panzerbrechenden Waffen….!

Entscheidend für das Verständnis der studentischen Rebellion aber ist Kisters objektiv zutreffende, ungeheuerliche Tatsachenfeststellung:

Der Todesschütze Kurras erfuhr nach der Tat die Solidarität des Polizeiapparates und großer Teile des Bürgertums!

Genau darum ging es uns: um diesen zum Himmel schreienden politischen Skandal deröffentlichen Akklamation eines „politischen“ Mordes / Totschlags  (die mich an die Reaktionen auf den Röhm-Putsch im Juli 1934 erinnerten):  sie  war es, die aus einer kleinen  Gruppe von „eigentlich“ zur politischen Ohnmacht sozialisierten jungen Erwachsenen für kurze Zeit eine „Außerparlamentarische Opposition“ als eine basisdemokratische Bürgerinitiative formte, welche sich gegen den ganz eindeutig faschistoiden Mainstream dieses bleiernen Obrigkeitsstaates BRD und seiner volksverhetzenden Presseorgane (SZ vom 27. 5. 2009, S. 11) nachhaltig Gehör und Beachtung verschaffen konnte!

Wir haben damals – ohne Rücksicht auf persönliche Befindlichkeiten und Karrierepläne – durch Regelverletzungen (Blockade von Straßenbahnschienen, Betreten öffentlicher Anlagen, gewalttätige Ausschreitungen) das Eis gebrochen und die mentalen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass in Deutschland heutzutage etwas humaner mit Kindern, mit Frauen, mit Andersdenkenden, Außenseitern, Andersartigen und Fremden beispielsweise umgegangen wird. Und ohne unsere unabdingbar Not-wendige Radikalität (http://einestages.spiegel.de/static/authoralbumbackground/4290/1/aktion_roter_punkt.html) wäre die SPD kaum als das „kleinere Übel“ erschienen, gewählt und politisch aktiv geworden –  mit all den positiven Folgen in punkto Aufstieg durch Bildung für viele Hunderttausende oder die Wiedervereinigung Deutschlands. Beispielsweise.

Und da soll uns durch das Outing des Todesschützen Kurras nunmehr „bewusst“ werden, dass „Benno Ohnesorgs Tod ein gesamtdeutsches Datum ist“? Auch dies einer von den vielen schwachsinnigen Sätzen des „Verschwörungstheoretikers“ Kister – „vermutlich hätte er (Kurras) sich als Waffenmeister auch in der RAF zurechtgefunden“ – der absurder Weise genau über die „zufällige“ SED-Mitgliedschaft des Täters „sehr ausführlich reden muss, damit sie (die Zufälle – GW) eben keinen Anlass bieten zu Verschwörungstheorien.“ Als ob „reden“ oder „sehr ausführlich reden“ ein Wert an sich wären…!? („Gut, dass wir darüber geredet haben“ – das Mantra / Erkennungszeichen der Plappernden Kaste….).

Dieses vordergründig kuriose küchenpsychologische Geschwafel unseres hier Besorgnis mimenden Linkenhassers stellt in Wirklichkeit nur auf ein einziges erkenntnisleitendes Geschäftsinteresse ab, welches in unübersehbaren, grünen Lettern ja auch noch als Aufmacher auf der Titelseite der SZ prangt: DER GRÜNDUNGSMYTHOS DER 68er WACKELT / FEUILLETON Der Appell: kauf mich, kauf dieses Mal mich, denn ich künde dir von meinem Schreibtisch aus von einem Skandal, von einer Sensation, von etwas ganz Revolutionärem, nämlich vom „wackelnden Gründungsmythos“ der 68er…! Abgesehen davon, dass die Außerparlamentarische Opposition von niemandem „gegründet“ worden ist, sondern sich aus Diskussionen, aus Sit-ins, Vollversammlungen, Kinderläden, Demonstrationen etc. autonom entwickelt hat, kann ich nur sagen: da hat man dir, mein geliebtes FEUILLETON gegen gutes Geld einen miesen, zum politologischen und literarischen Himmel stinkenden Verriss von Zeitzeugen in die Spalten gedrückt, weshalb auch du dich jetzt fragen wirst: WOZU das nur?!

Hier meine begründbare Vermutung: vielleicht geht angesichts der zum Tanzen gebrachten politisch-ökonomischen Verhältnisse der gut besoldeten und sich auch ansonsten privilegiert wähnenden Plappernden Kaste im Hause ganz einfach der Gesprächsstoff aus, weshalb „der nicht sehr helle Kurras“ – Pardon: der zeitgeschichtlich überforderte Kurt Kister mal wieder ganz tief in`s Ressentiment-Kisterl gegriffen hat, um wenigstens noch ein paar – wenn auch unlogische und diskriminierende – Sätze abliefern zu können?!

Ich sage mir: lass sie wüten, lass sie stänkern. Die Plappernde Kaste plappert und die Kolonne der Hartnäckigen zieht weiter! Was die Avantgarde der 68er vor 40 Jahren durch ein wirklich – und nicht voluntaristisch-egoistisch – denken Können prognostiziert hat, das ist nunmehr für jeden offensichtlich und erlebbar geworden – und in einem Jahr wissen wir es dann noch genauer, welche Seite sich für ihre „Irrtümer“ entschuldigen soll.

Falls das dann überhaupt noch jemanden interessiert…?!

Drei Wochen später hat Willi Winkler wieder alles gutgemacht mit:

„Im Zweifel Stasi

Springer-Chef Mathias Döpfner und sein irritierender Blick auf die „68er-Geschichte“ seines Unternehmens

Eigentlich sind die alten Schlachten geschlagen, die Gräben zugeschüttet, ist die Jahreszahl 1968 in eine märchenhaft ferne Zeit entrückt, von der bestenfalls rauschebärtige Großväter ihren Enkelkindern erzählen mögen. Nur böswillige Konkurrenten, nur unbelehrbare Ewiggestrige würden dem Springer-Verlag vorwerfen, er hocke noch immer im Schützengraben 68.So beschäftigt die Welt, von ihrem Verleger Axel Springer einst als konservatives intellektuelles Organ gedacht, als Chefredakteur einen ehemaligen Straßenkämpfer, den bemerkenswert wandlungsfähigen Thomas Schmid. In der Welt schreiben nicht bloß ehemalige 68er Aktivisten wie Bernd Rabehl oder Wolfgang Kraushaar, dort wirkt als Parlamentsreporterin auch Mariam Lau, deren Vater Bahman Nirumand einst die Berliner Studenten über die Verbrechen des persischen Schahs aufklärte und deren Großvater, der Schwelmer CDU-Stadtrat Walter Siepmann, unter den Augen der Berliner Polizei von den Schlägern ebendieses Schahs verprügelt wurde. Und das Springer-Hauptgebäude in der ehemaligen Kochstraße „an der Mauer“ kommt jetzt sogar mit dem neuen Straßennamen aus, der an den Revolutionär Rudi Dutschke erinnert.Die Zeit heilt alle Wunden, und der Kapitalismus gibt das Pflaster drauf. Bereits 1997 streckte nicht der Springer-Verlag, aber doch das „Bild/Bild am Sonntag Anzeigenteam“ die Hand weit aus, weil es eine „Premium-Zielgruppe“ entdeckt hatte. „Die 68er-Generation ist vor allem die Generation der Erben“, hieß es da in einer Broschüre für die Anzeigenkunden. Der gefürchtete „lange Marsch durch die Institutionen“ ist zur allgemeinen Zufriedenheit abgeschlossen; die 68er haben „ihre Ziele erreicht“. – „Sie geben in allen Bereichen der Gesellschaft den Ton an; sie repräsentieren im guten Sinne Bürgertum und Elite zugleich.“ Das hätte sich der Revolutionär Rudi Dutschke nicht träumen lassen.Diese späte Erkenntnis konnte aber nur jene überraschen, die vergessen haben, wie gründlich der Springer-Verlag diese „Premium-Zielgruppe“ von Anfang an verfolgte. Vor gut vierzig Jahren hatten die 68er noch nicht diese interessante Premium-Reife erlangt, sondern waren bloß Studenten. Das machte sie zum ausgesuchten Hassobjekt der sogenannten arbeitenden Bevölkerung und damit auch der ihren Lesern nach dem Munde schreibenden Springer-Zeitungen.Axel Springer gebot in Berlin 1967 nicht nur über die lokalen Ausgaben von Bild (Auflage in dem Jahr: 135 000), Welt (30 000), Welt am Sonntag (55 000), über die Berliner Morgenpost (215 000), sondern vor allem über das Brüll-Organ B.Z., das mit 340 000 tagtäglichen Exemplaren für die rechte Stimmung sorgte. Bevorzugter Gegenstand und liebster Gegner der Berliner Springer-Zeitungen waren in den sechziger Jahren die Studenten der Freien Universität (FU). In Dutzenden Karikaturen erscheinen die Studenten als strubbelige, stoppelige, grundsätzlich bebrillte Randalierer. Ihnen steht der anständige Mehrheits-Berliner gegenüber, selbstverständlich rasiert, mit Anzug und huttragend, der mit Volkes Stimme bedauert, „det wa für euch Stipendien zahln!“ (Berliner Morgenpost). Die Schriftzeile „Demonstrieren geht über studieren“ war jenen Berlinern in die Seele souffliert, die genug hatten von „Radikalinskis“, „Dutschkisten“, „Mao-Politruks“, „FU-Chinesen“, dem ganzen „hysterischen Rudel“. Dieses arbeitsscheue Gesindel, das in der Universität herumlungerte, wenn es nicht grölend über den Kudamm zog und, wie es der Regierende Bürgermeister Klaus Schütz formulierte, „den Amerikanern in die Schuhe spuckt“.Die protestierenden Studenten wehrten sich gegen diese Verfolgung. Es bot sich an, den Verlag mit seinen drastischen Schlagzeilen nun seinerseits zu skandalisieren. Vor allem aber sollte untersucht werden, wie das System funktionierte, mit dem Axel Springer seine marktbeherrschende Stellung in Berlin erlangt hatte. In einem theatralischen „Tribunal“ sollte Springer vor ein intellektuelles Gericht gestellt und abgewatscht werden dafür, dass seine Zeitungen jeden Tag „Journalismus als Menschenjagd“ betrieben, wie es der Schriftsteller Reinhard Lettau formuliert hat.Von Anfang an war für Springer diese Kritik aus dem „Osten“ gesteuert. Walter Ulbricht hatte den Verlag angegriffen, also musste die gesamte Enteignet Springer!-Bewegung von den Kommunisten herrühren. Dass es auch marktwirtschaftliche Gründe gab, sich gegen die beherrschende Stellung Springers in Berlin zu wehren, kommt den Verschwörungstheoretikern nicht in den Sinn; es muss auch hier die Stasi gewesen sein.Die neueste Version, die auch der heutige Springer-Chef Mathias Döpfner präsentiert, dreht sich wieder einmal um Walter Barthel, den Redakteur des extra-dienstes, der die Parole „Enteignet Springer!“ im April 1967 in die Welt gesetzt hat. Barthel hatte für die Stasi gearbeitet, war allerdings bereits 1966 abgeschaltet worden und wirkte nur mehr für das westdeutsche Bundesamt für Verfassungsschutz. Der extra-dienst erhielt etwas Geld aus der DDR, er bekam allerdings auch Geld von Hamburger Verlegern wie Gerd Bucerius und Rudolf Augstein, die eine Ausbreitung der Vormacht Springers nach Westdeutschland und ins Fernsehen fürchten mussten. Weder Augstein noch Bucerius wollte Springer enteignen, und selbst unter den enthusiasmierten Studenten gab es bald Zweifel an der eigenen Kampagne.Döpfner ist nun auf den kühnen Gedanken verfallen, dem Axel-Springer-Verlag sei „Unrecht widerfahren“ „in dieser Auseinandersetzung“. In einem Gespräch mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erklärte er, dass „sich die uneinsichtigen Protagonisten der 68er-Bewegung mal bei unserem Haus entschuldigen“ sollten.Die Frage ist, wofür. Dafür vielleicht: „Wer Anstand und Sitte provoziert, muss sich damit abfinden, von den Anständigen zur Ordnung gerufen zu werden.“ So kommentierte die Berliner Morgenpost die Erschießung des Studenten Benno Ohnesorg durch den anständigen Polizisten Karl-Heinz Kurras. Oder dafür? „Wer Terror produziert, muss Härte in Kauf nehmen.“ Bild war das aber immer noch nicht genug und erklärte den Ermordeten mitsamt den anderen Demonstranten für schuldig: „Er wurde das Opfer von Krawallen, die politische Halbstarke inszenierten. (. . .) Ihnen genügte der Krach nicht mehr. Sie müssen Blut sehen.“Von den Springer-Gegnern würden, behauptet Döpfner, nur „immer wieder dieselben drei oder fünf Zeilen wiederholt“: Zeilen wie die zitierten, und natürlich: „Von Stimmungsmache kann gar keine Rede sein“.Es ist verständlich, dass ein Ästhet wie der studierte Musikwissenschaftler Döpfner die alten Zeitungen mit ihrem Geheul, das unermüdlich zu einem Aufstand der Anständigen ruft, lieber nicht mehr anfassen will. Es handelt sich schließlich um das Erbe Axel Springers, das in der Deutung seines Nachfolgers immer mildere Züge gewinnt. Dass der große Freund Israels, der Propagandist für die Wiedervereinigung, sein Geld mit Aufhetzung verdient hat, passt einfach nicht in diese Geschichtsklitterung.Aber das bekam der Berliner im Westteil der Stadt zu lesen: Die Studenten, die im April 1967 das berüchtigte Pudding-Attentat gegen den US-Vizepräsidenten planten, müssen, wenn es nach der Welt geht, „ohne Nachsicht abgeurteilt werden“. Dank Bild werden diese „politischen Gammler mit unausgegorenem Geltungsdrang“ in der Kommune I „aufgespürt“. Damit der Leser weiß, mit wem er es da zu tun hat, erklärt die Zeitung auch gleich, was es damit auf sich hat: „Das sind Groß-Ehen“ von mindestens sechs Personen, wobei brüderlich der weibliche Anhang untereinander geteilt und getauscht wird.“ (Bild, 28.4.67)Gern sind solch dichte Beschreibungen mit einer Aufforderung zur direkten Aktion verbunden: „Wie lange noch will der Senat, wie lange noch wollen die Berliner sich das ansehen?“ (Morgenpost, 8. 4. 67) Umso erfreulicher, wenn die Stimme des Volkes melden kann: „Rabatz-Studenten soll es an den Kragen gehen“.Die Freiheit der westlichen Welt wird in Berlin verteidigt und natürlich durch den persischen Diktator Reza Pahlewi, der die Stadt mit seiner Gegenwart beehren will. Nach all der Randale durch die zugewanderten Langhaarigen fürchtet die Morgenpost um das Ansehen der Stadt: „Kommt der Schah nicht nach Berlin?“ Der hohe Gast hat wohl davon gehört, dass sich nur die anständigen Berliner über seinen Besuch freuen mögen. Vielleicht hilft ja ein von früher her bewährtes Mittel. Zur Sicherheit werde erwogen, „oppositionell orientierte persische Studenten in den ersten drei Junitagen in Schutzhaft zu nehmen“. Sechs Tage später kann die B.Z. melden „Alle politischen Gegner des Schahs sind bekannt“, muss allerdings bedauernd feststellen: „Zu vorläufigen Festnahmen kam es jedoch nicht.“ Am Tag, als der Schah dann in der Stadt erwartet wird, meldet sich der Polizeipräsident noch mal in der B.Z.: „Helft der Polizei, die Störer zu finden und auszuschalten!“Das alles wurde vor dem 2. Juni geschrieben, vor dem Tag, an dem Polizeiobermeister Kurras einen von diesen Störern mit einem Pistolenschuss ausschaltete. Bürgermeister Albertz verteidigte die Polizei mit einem Satz, den er den Springer-Brüllern nachplapperte: „Die Geduld der Stadt ist am Ende.“Das war der Sommer 1967, der „nicht erklärte Notstand“ (Hans Magnus Enzensberger), das war die Art, wie Springers Zeitungen die Stimmung anheizten. Hier gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder Döpfner weiß es nicht besser, oder er weiß es und formatiert die Wahrheit. Man habe, schrieb Sebastian Haffner im Mai 1968 im Stern, “ tatenlos zugesehen, wie Springer aus den Studenten die neuen Juden gemacht hat.“ Enzensberger sprach vom „neuen Faschismus“, der einen neuen „Innenfeind“ in Auftrag gegeben habe. „Juden kommen nicht in Betracht. (. . .) Als ideale Zielgruppe werden die Studenten entdeckt.“Am 13. April 1968 erfuhren die Leser von Bild, dass endlich eingetreten war, was Bild schon immer herbeibefürchtet hatte: „Terror in Berlin!“ Der „Terror der Straße“ war jene gewalttätige Demonstration, die sich nach dem Mordanschlag gegen Rudi Dutschke gegen das Springer-Verlagshaus in der Kochstraße richtete. Die Demonstranten drangen ins Foyer ein, wo sie aber sogleich zurückgeschlagen wurden. Ein paar Aktivisten versuchten dann, die Auslieferungsfahrzeuge in Brand zu stecken. Bei Bild wird das vertraute Mantra gebetet: „Immer mehr deutet darauf hin, dass Kommunisten die Terroraktionen gesteuert haben.“Nicht erst heute ist bekannt, dass die Brandsätze von jenem Peter Urbach bereitgestellt wurden, der im Auftrag des Berliner Innensenators Kurt Neubauer die studentische Szene kriminalisierte.Aber so ist das mit den Geschichten aus der Welt der Großväter: Es erinnert sich jeder, aber jeder anders, und im Zweifel war es doch die Stasi. Es fehlt allerdings eine Untersuchung, die ohne nachträgliche Rechthaberei zeigt, mit welcher Sprache die Morgenpost, die B.Z., und Bild die Studenten beschrieben, wie schon sprachlich die Studenten zum niederen Jagdwild erklärt wurden.Zu den engsten Beratern Springers in den Krisenjahren 1967/68 gehörten zwei ehemalige Nazis. Horst Mahnke, der Leiter des Redaktionellen Beirats, hatte sich als „Gegnerforscher“ seine eigenen Verdienste im „Dritten Reich“ erworben. Paul Karl Schmidt war Legationsrat in Ribbentrops Außenministerium und hatte 1944 versucht, Aktionen gegen Juden zu legitimieren. Der Mann, der zumindest theoretisch an der Judenvernichtung beteiligt war, beriet einen Mann, der seinen Redakteuren die „Aussöhnung mit den Juden“ in den Arbeitsvertrag schrieb. Auch das wäre eine deutsche Geschichte.“

WILLI WINKLER

Süddeutsche Zeitung Samstag, den 13. Juni 2009

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Eine Antwort zu Wer wackelt wozu am Gründungsmythos?

  1. harrygambler2009 schreibt:

    Und am Ende, am Ende 2010 hat niemand mehr über den Fall berichtet.
    Kurras sitzt heute zu Hause und lebt von einer dicken Pension und kann sich des Lebens freuen.
    Gut, nun sind ja viele Mitschuld, doch das fatale an der Ermordung von Benno Ohnesorg ist die Tatsache, dass wieder ein Täter geschützt und behütet aus seinem Verbrechen hervor geht. Ein Fall der Typisch ist für die deutsche Justiz auch nach 1945, es werden immer die Täter geschützt, nie die Opfer.
    http://bennoohnesorg.wordpress.com/2009/11/19/der-fall-kurras-und-die-angst-der-demokratie-vor-der-wahrheit/

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