„Typisch Schröder“ – oder: woran der Kanzler wirklich scheiterte

Essay vom 17. 8 2005, einen Monat vor der Bundestagswahl.

work in progress: 2. Mai 2015

Unter der Überschrift „Gerechtigkeit für Schröder“ hat Bernd Ulrich im Juni diesen Jahres einen Nachruf auf den Kanzler der Bundesrepublik Deutschland veröffentlicht, in dem er dessen „Neuwahlcoup“ als „patriotischen“ Akt herausstellt:

Gerhard Schröder mag egozentrisch sein. Aber so egozentrisch, dass er nur für das Dranbleiben die Interessen des Landes verletzen würde, ist er eben nicht. (DIE ZEIT 27/2005)

Diese Interpretation könnte auch dem Selbstverständnis des Kanzlers entsprechen, doch erfasst man mit „Patriotismus“ schon das wirkliche Motiv dieses „Machers“, oder war die Vertrauensfrage nicht eher ein Zeichen von Resignation eines „unpopulären“ und „glücklosen“ Politikers?

Der deutsche Bundeskanzler Gerhard Schröder befindet sich an einem Tiefpunkt seiner Karriere. Der als Befreiungsschlag gedachte Rückzug vom Parteivorsitz könnte der Anfang vom Ende des Reformprozesses sein – und damit auch von seiner Amtszeit (SPIEGEL 03. 02. 2003)

Hatte ihn 2002 sein Mut vor Fürstenthronen über die eigentlich schon feststehende Niederlage hinweggerettet, so fehlte ihm nach seiner Wiederwahl im September doch augenscheinlich die Fortune.

Was aber fehlte ihm noch? Woran ist der Kanzler wirklich gescheitert?

„An seiner Unpopularität“, sagen die politischen Beobachter unisono und führen zur Erklärung die Zumutungen der Gesundheitsreform, der Agenda 2010 sowie „handwerkliches Ungeschick“ bei deren Umsetzung an. Doch diese Begründungen leuchten nicht ein, zumindest dann nicht, wenn man sich folgende Fragen wahrheitsgemäß beantwortet:

Warum sollte ein Kanzler unpopulär sein, der

  1. dem Gros der Wahlbevölkerung Steuernachlässe von mehr als 40 Mrd. Euro zugeeignet hat,
  2. eine als längst überfällig angesehene Reform der Arbeitsmarktpolitik auf den Weg gebracht hat,
  3. eine als längst überfällig angesehene Reform der Struktur des Gesundheitswesens angestoßen hat,
  4. auf eine äußerst erfolgreiche Exportwirtschaft verweisen kann,
  5. Deutschland vor einem „abenteuerlichen“ Kommandounternehmen bewahrt hat?!

Und last but not least: warum sollte ein Kanzler unpopulär sein, der sich den Forderungen nach einer weiteren Umverteilung der Einkommen von „unten nach oben“, einer Mehrwertsteuer-Erhöhung,  einer Verlängerung der unbezahlten Wochenarbeitszeiten, einer Verschiebung des Renteneintrittsalters, einer Besteuerung von Sonntagsarbeit etc. etc. verweigert hat – und dies auch noch im Vergleich mit einer Opposition, die ja nicht nur alle genannten Projekte unterstützt hatte, sondern die für das Gros der wirklich unpopulären „Reformen“ verantwortlich zeichnete! Und sie noch zu verschärfen gedenkt?! Warum sollte ein solcher Anwalt der Kleinen Leute unpopulär sein?!

Eine scheinbare Antwort auf diese Frage gibt Thomas Wittke, der bei der Opposition kritisch auf „die Gemengelage aus glaubwürdiger wirtschaftspolitischer Alternative, unübersehbarer steuer- und innenpolitischer Zerstrittenheit und personellen Problemen“ aufmerksam macht und „trotzdem“ zu der Schlussfolgerung gelangt, es könne „dem bürgerlichen Bündnis vor allem aus einem Grund zur Mehrheit langen: Die Menschen haben mit Rot-Grün abgeschlossen.“  (GA vom 25. 8. 2005)

Die Frage ist: Stimmt das?! Und wenn Ja: Warum?! Haben die Menschen mit der Politik von „Rot-Grün abgeschlossen“ – oder nicht doch viel mehr mit ihrem Führungspersonal?

Woran also ist „Rot-Grün“ wirklich gescheitert?

„Gescheitert ist der Kanzler an dem, was er nicht in den Griff bekommen hat“, sagen Meinungsbildner, insbesondere an dem, was sich „meiner Politik“ entziehen konnte. Gescheitert sei er also ein weiteres Mal an dem selbstgesetzten Führungsanspruch,

  • den Trend zum Abbau von Arbeitsplätzen nicht nur zu stoppen, sondern umzukehren, also „Arbeit zu schaffen“, wie es die Opposition jetzt verspricht;
  • den Trend zum Abbau von Kaufkraft in fast allen Bevölkerungskreisen nicht nur zu stoppen, sondern umzukehren;
  • den Trend zum egoistischen Anspruchsdenken nicht nur zu stoppen, sondern zu wenden.

Was ihm nicht nur die Opposition vorwirft ist, dass seine Regierung an den Symptomen herumgedoktert habe und unfähig gewesen sei, die „Ursachen“ der Stagnation der Binnennachfrage zu beheben.

EXKURS

Deutschland zehn Jahre später, genauer gesagt: am 28. März 2015:

Rudolf Augstein stellt in DER SPIEGEL 14 – 2015 haargenau die gleiche Frage wie ich sie bereits am 17. 8. 2005  gestellt hatte – und kommt zwangsläufig auch zum gleichen Resultat, nur zehn Jahre später – nein: zu spät

Augstein 2Tja: das fordert der Weghorn seit mehr als zehn Jahren von seiner Partei! Und auch den Austritt der Bundeswehr aus der NATO, die vom Pentagon als Fremdenlegion des Imperiums angesehen und eingesetzt wird.

Gibt es das überhaupt: ein „zu spät“?! Antiamerikanismus SPIEGELSeit wann gibt es für die Plappernden Kaste so etwas wie „deutsche“ Interessen?! Und am 2. Mai 2015 die Statthalter des Pentagon – BND  und Bundesregierung – als Hochverräter  hinzustellen: ist das nun Antiamerikanismus – oder die Renaissance der bis heute massiv unterdrückten Fähigkeit zum wirklich-denken-können.de ?! Schaun wer mal!

EXKURSENDE

Jetzt also wollen es die „Marktradikalen“ richten, jetzt also strebt die Union, der das Wahlvolk eine doppelt so hohe „Wirtschaftskompetenz“ zuspricht wie der SPD, an die Schalthebel der Macht, um ihrer angebotsorientierten Wirtschaftspolitik endlich zum Durchbruch zu verhelfen, die da z. B. verkauft wird als

  • „Entbürokratisierung“ – sprich: Abschaffung oder Merkantilisierung bestimmter staatlicher Dienstleistungen
  • Abschaffung der Lohnzusatzeinnahmen – von der Opposition auch als „Lohnnebenkosten“ bewertet – sprich: Abwälzung der rapide steigenden Kosten und Risiken für die persönliche Gesundheits-, Arbeitslosen- und Altersvorsorge auf den Arbeitnehmer selbst sowie den Steuerzahler.
  • Entfesselung des Produktionsfaktors Kapital durch Steuersenkungen sowie durch Paralysierung des Gewerkschaftseinflusses auf betrieblicher und gesellschaftlicher Ebene.

Auf die Resultate darf man gespannt sein – doch erscheinen mir auch diese Maßnahmen nichts weiter als ein erneuter Versuch der Quadratur des Kreises zu sein, denn: die Krise bleibt, weil das global agierende spekulierende Kapital – besser bekannt als „Heuschrecken“ – nicht zuletzt dank der „Privatisierung“ ehemals sozialstaatlicher Dienstleistungen seine Macht ausdehnen und von niemandem mehr zu beherrschen sein wird! (Meine PROGNOSE in 2005!)

Wie kann man unter solchen Bedingungen überhaupt noch Politik machen? Wie hätte Gerhard Schröder unter diesen Prämissen Politik machen müssen? Woran also ist der Kanzler wirklich gescheitert?

Vordergründig gesehen ist die rot-grüne Koalition gescheitert an der Inkompetenz ihres Führungspersonals, an einem Regierungshandeln, das nicht nur von oppositionellen Kräften als „unglaubwürdig“, „handwerklich ungeschickt“ oder „in sich widersprüchlich“ angeprangert wurde. In Schröders Begründung für die Vertrauensfrage am 1. Juli bestätigte er, dass der Vertrauensverlust in „meine Politik“ bis in die Regierungsfraktionen hineinwirke.

Nun will der Kanzler sich durch die von ihm erzwungenen Neuwahlen direkt vom Wähler eine „Legitimation für die Fortsetzung meiner Politik“ holen – oder aber sich aus der Politik als „Kämpfer“ verabschieden. „Gerhard Schröder: Wer nicht kämpft hat schon verloren“, so ist ein vom ZDF produziertes Portrait betitelt.

Als ich am 22. 5. seine Kampfansage vernahm, dachte ich spontan: „typisch Schröder!“ Und ich will nicht verhehlen, dass da ein bewundernder Unterton mitschwang: „immer noch der alte ´Acker´. Erinnerst Du Dich:

  • Schröder erklärte 1998 denjenigen Bewerber zum Kanzlerkandidaten der SPD, der die Landtagswahl in Niedersachsen für die SPD gewinnen könnte.
  • 2002 wählte ihn die SPD zum Kanzlerkandidaten, weil sie berechtigter Weise davon ausgehen musste, dass es nunmehr zu Schröder überhaupt keine Alternative mehr gab.
  • Und jetzt, also Minuten nach der für die NRW-SPD verloren gegangenen Landtagswahl, krönt sich der Teufelskerl zum dritten Mal zum Kanzlerkandidaten der SPD – und verhindert so erneut die Auseinandersetzung über die wirklichen Gründe für die Bedeutungsverluste der SPD. Das ist schon persönlich stark!“ Was aber ist es darüber hinaus?

Wofür steht dieser „autoritäre Führungsstil“, und was bewirkt er, auch – und nicht zuletzt – bei den noch verbliebenen 650 000 Mitgliedern seiner Volkspartei? Ist etwa der persönliche  Führungsstil des Kanzlers – und nicht der Inhalt „meiner Politik“ – ursächlich für die nicht enden wollende Serie von Niederlagen der SPD auf kommunaler und auf Landesebene seit 1999?

„Typisch Schröder“, das ist ein Führungsstil, den man als „präsidial, eigenständig und ohne das Korsett der eigenen Partei“ auf den Punkt bringen kann, wie dies unlängst von Matthias Machnig, dem früheren Chef der SPD-Kampa, geschehen ist (DIE WELT 5. 8. 2005).[2]

„Typisch Schröder“. Dieser präsidiale, eigenständige und die Unwägbarkeiten des Ausgangs eines demokratischen Willensbildungsprozesses berücksichtigende Führungsstil erinnert mich ein klein wenig an ein absolutistisches Herrschaftsgebaren:

„Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet. Die Entscheidungsgewalt in einer durch Gesetze nicht geregelten Grenzsituation ist demnach die wahre Quelle der politischen Macht. Nur was im gesetzlosen Ausnahmezustand entschieden und durch die Gewalt der Entscheidung legal wird, begründet Schmitt zufolge Herrschaft,“

so fasste Daniel Binswanger die Quintessenz der Rechtsphilosophie von Carl Schmitt unlängst in drei Sätzen einprägsam zusammen. (DIE WELT 3. 8. 2005)

Das Bundesverfassungsgericht wird uns in diesem Monat noch zeigen, ob der „Neuwahlcoup“ einen „gesetzlosen Ausnahmezustand“ generiert hat – und wenn ja: ob auch 2005 dieser Ausnahmezustand wieder „durch die Gewalt der Entscheidung“ des Parlaments vom Gericht nachträglich legalisiert werden kann. Es wäre ja nicht das erste Mal. (Nachtrag 2012: Und auch nicht das letzte!)

Sollte es zu Neuwahlen kommen, so ist aber allen klar, dass es keine Neuauflage der rot-grünen Koalition geben und dass der Kanzler als Kanzlerkandidat scheitern wird; auch Gerhard Schröder dürfte bewusst sein, dass er sein Amt unwiderruflich „verloren“ hat.

Doch woran ist er in dieser Legislaturperiode wirklich gescheitert, wenn nicht in erster und letzter Instanz an „meiner Politik“? Meine Behauptung lautet: gescheitert ist der Kanzler am „Schröder Gerhard“, wie man in Bayern sagen würde, wenn man „persönlich“ werden möchte. Gescheitert ist der Kanzler an bestimmten Strukturen seiner Persönlichkeit, plakativ gesagt: an sich selbst.

Nobody is perfect, diese Lebensweisheit kennt eigentlich jeder, also auch der Schröder Gerhard – nur will er sie offensichtlich für sich nicht gelten lassen! Wieso „will“ ?! Vielleicht „kann“ er die eigene Fehlbarkeit, Unzulänglichkeit oder gar Ohnmacht einfach nicht zugeben, vielleicht ist er hierzu „charakterlich“ nicht imstande.

Ein Beispiel?

ZEIT: Gab es in diesen sieben Jahren nicht auch verpasste Möglichkeiten?

Schröder: Das kann man im Leben nie ausschließen, auch im politischen Leben nicht.

ZEIT: Wollen Sie eine nennen?

Schröder: Nein. Mir ist auch keine präsent. (DIE ZEIT 22/2005)

Hat der Gerhard hier das, was man beim Helmut netter Weise als „blackout“ kaschiert hatte? Oder manifestiert sich in dieser Antwort grundständig ein „blinder Fleck“ in seinem Qualifikationsprofil „Selbsterkenntnis“?

Ich kenne nicht wenige Zeitgenossen, für die der Schröder ein Besserwisser, Rhetoriker, Schauspieler ist, dessen Selbstgefälligkeit Aggressionen hervorruft: dieses ständige Grinsen! Ich könnte dem … Andererseits fasziniert sie diese so genannte Arroganz auch und gerade dann, wenn sie von einem Menschen kommt, den ich partout nicht leiden kann: wenn ich den schon sehe…!!

Und Gerhard Schröder wird gesehen, gilt er doch gemeinhin als „Medienkanzler“ oder als „TV-Entertainer“ – und wie er neulich in der „Gerd-Show“ bei Sabine Christiansen vier seine „Gegner“ eingeseift hat, das hatte schon rhetorische Klasse.

Doch ich behaupte:

Schröders fundamentale Nimbusbeschädigung – deren Resultat hier auf den Begriff Verlust der Glaubwürdigkeit reduziert werden darf – kann auch durch Charmeoffensiven von diesem Format nicht mehr „repariert“ werden!

Glaubwürdigkeitsdefizit? Alle Parteien wollen in diesem erzwungenen Wahlkampf vor allem mit Wahrhaftigkeit und Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit auftreten. So schreitet das SPD-Wahlmanifest einher unter dem ambivalenten Titel „Vertrauen in Deutschland“ – vordergründig ein typischer Waschmittelwerbeslogan, der jedoch hintergründig anknüpft an die Sehnsucht der Menschen nach Glaubwürdigkeit, nach Wahrhaftigkeit, nach Vertrauenswürdigkeit, nach jenen drei Charaktereigenschaften also, die unser höchstes Ideal begründen, das da ist: jemanden lieben zu können und selbst geliebt zu werden!

Vertrauen aber kann man m. E. nicht in eine Nation, sondern nur in eine Person haben – sei es in sich selbst, sei es in einen anderen, so dass berechtigter Weise die Frage gestellt werden darf, warum der Slogan nicht heißt: Vertrauen in den Kanzler? Und: Vertrauen wird dir nicht geschenkt, du kannst es gewinnen, du kannst es verspielen – und es kann dir brutal entzogen werden.

Woran also ist der Kanzler wirklich gescheitert?

Ich denke an Schwachstellen in seiner Kampfkompetenz, an einer bestimmten Unfähigkeit nämlich, genau jenen Aggressoren, die seine persönliche Glaubwürdigkeit – und damit seine wirkliche Vertrauenswürdigkeit – persönlich zerstören wollen, auf eine respektgebietende Art und Weise Einhalt gebieten und das Handwerk legen zu können.

Wovon ich spreche?

Der Zeitraum, in dem der unabdingbar notwendige Nimbus des Kanzlers als vertrauenswürdige Führungspersönlichkeit endgültig zerstört worden ist, lässt sich m. E. exakt umreißen: es waren die drei Monate nach der im September 2002 für Schröder – dank höherer Gewalt, persönlichem Mut und viel Fortune – glimpflich verlaufenen Bundestagswahl, denn eigentlich waidwund geschossen hatte man ihn schon 2002. In diesen drei Monaten aber halbierte man den Wert der Marke Schröder von sehr beachtlichen 61 auf lächerliche 30 Punkte – was auch heute noch als beachtliches Kampagneergebnis bewertet werden muss!

Und diese Kampagne war – was sich als einer ihrer Erfolgsfaktoren erweisen sollte – als solche weder geplant noch von der frustrierten Opposition organisiert gewesen. Sie kam auch nicht daher als „Manifest“, als Medienattacke, als Plakat, als Slogan – vor allem aber nicht als „Politik“. Sie schwebte ein im Gewand eines profitabel verkäuflichen Produkts:

SteuersongMit dem ´Steuersong´ des begnadeten Schröder-Parodisten Elmar Brandt, 31, der vergangene Woche in die Hitparaden schoss, hat Deutschland seine Melodie gegen die Malaise gefunden und schnippt im Latino-Rhythmus des ´Ketchup-Songs (Hey Hah)´ bei erhöhtem nationalem Adrenalinspiegel mit.

Originalton des Hohngesangs.

Gerd SteuersongAus diesem Artikel – einfühlsam betitelt Der Schwachmaten-Kanzler – wird man des weiteren darüber ins BILD Dir eine Meinung gesetzt, dass „zehn Millionen Deutsche (…) täglich die akustischen Invektiven des Schröder-Imitators“ hörten: „der ´Steuersong´ bricht alle Rekorde. Ende vergangener Woche war er vielerorts ausverkauft. Er ist zu einer Hymne des Protests gegen das rot-grüne Regierungschaos geworden.“

Doch damit nicht genug. Der „Steuersong“ ist auch Auftakt einer Medienattacke geworden, die es an Breite, Dauer und Härte bis dahin nicht gegeben hatte: nichts wird mehr in Anführungszeichen gesetzt, jede Injurie ist zitierfähig und die mediale Überheblichkeit ist mit Volkes Stimme maskierbar:

„´Mausi aus München´: ´Jaaa, ich bin auch für Neuwahlen. Sonst müssen wir alle auswandern.´ Sven aus Hamburg meint: ´Zum Totlachen, das Lied. Aber warum haben nur so viele den Volltrottel gewählt?´“ (ebenda)

Zurück zu meiner Frage, woran der Kanzler der Bosse wirklich gescheitert ist?

Als aufmerksamem Zeitungsleser dürfte Gerhard Schröder nicht entgangen sein, dass er für die herrschenden Kreise [3] ein wohlwollender Kanzler gewesen ist, der z. B.  auf die Frage: wird die Kapitalismus-Kritik (im Bundestagswahlkampf)  eine ähnlich große Rolle spielen wie im NRW-Wahlkampf?“ geantwortet hat:

„Ich habe das immer so verstanden, dass es dabei um die Frage der ethischen und moralischen Verantwortung von Unternehmen und Unternehmern geht.“ (DIE ZEIT a.a.O.)

Sehr „verständnisvoll“ gedacht – doch wir wissen eigentlich auch um den wirklichen Stellenwert von „Ethik“ und „Moral“ in der politischen Ökonomie oder davon, wie „das Volk“ darauf kommt zu behaupten: Politik ist ein schmutziges Geschäft!

Meine These lautet: dem Kanzler ist mit der „Steuersong-Kampagne“ der letzte Rest an Vertrauenswürdigkeit nicht nur brutal, sondern endgültig und unwiederbringlich entzogen worden, und zwar durch den ihm (nicht Kohl!) massenhaft und medial verweigerten Respekt vor seiner Rolle als gewähltem Kanzler von Deutschland, einem Respekt also, auf den auch er qua Grundgesetz einen Anspruch hat – einen Rechtsanspruch und einen „ethischen“ Anspruch dazu: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ….

Wieso „Respektlosigkeit“? Nach meiner Auffassung stellt das, was dem Kanzler mit dem Steuersong nachgesagt worden ist, eine ungeheuerliche Grenzüberschreitung dar, mittels derer wochenlang genau jener „Ausnahmezustand“ erzeugt worden ist – hier in der Behandlung einer Persönlichkeit des öffentlichen Lebens -, von dem ich bereits gesprochen habe.

Das Resultat: „Der Regierungschef wirkt wie ein erfolgreicher Stand-up-Comedian, der droht von der Bühne gepfiffen zu werden: Der Zeitgeist frisst seinen Kanzler“, (SPIEGEL (a.a.O.)

Doch nicht über die Infamie seiner Gegner ist der Kanzler gestürzt, sondern darüber, wie – methodisch und mental! – inkompetent er mit dieser sich künstlerisch tarnenden Kampagne – ist doch alles nur Spaaaaß – umgegangen ist, nämlich ohnmächtig und hilflos wie ein Kind.

Ich spitze zu: der Kanzler ist am Schröder Gerhard gescheitert, denn der wurde anvisiert und vorgeführt, auf den zeigte man wochenlang mit dem Finger, ihn verhöhnte man als Möchtegern– oder „Schwachmaten-Kanzler“, über ihn erhob man sich ungestraft  – und kam sich dabei „noch ganz schön super vor!“ Niemand hatte Mitleid mit Gerhard, niemand stellte sich schützend vor ihn, niemand riss dem Pöbel die Maske vom Gesicht, niemand hielt dem Grölenden den SPIEGEL vor die Nase und ließ ihn abgrundtief erschrecken, und zwar vor diesem BILD, welches er selber bot! Im Gegenteil: auch so gut wie jeder, der sich medial hervortun durfte, ließ sich im Mainstream treiben und feixte mit im Chor der frechen Blagen über Möchtegern-Papis Ohnmacht.

Ich denke, es war genau diese für jeden offensichtliche Hilflosigkeit des Kanzlers – keinen Paladin zu haben und sich selbst vor dieser mittelalterlich anmutenden Hexerverbrennung nicht wirklich schützen zu können – die dann auch honorige Bürger dazu ermunterte, Anfang 2003, auf dem Kölner Rosenmontagszug, noch einen oben drauf zu setzen und den Kanzler in Gestalt einer haushohen splitternackten Pappfigur vor 15 Millionen Fernsehzuschauern und anderen Narren „durch den Kakao zu ziehen“ – metaphorisch gesprochen also zu demonstrieren, dass der Brioni-Kaiser ungestraft bloßgestellt werden könne.

Spätestens da war der Kanzler als Führungspersönlichkeitgestorben“ – und so kämpferisch er sich heute auch geben mag: das sexistisch aufgemotzte Versager-Image (Stoiber: der bringt´s nicht!; BILD: War das alles?) ist er seitdem nicht mehr los geworden, will sagen: der Kanzler ist seitdem als ehrenwerter Staatsmann verbranntund das genau ist der Grund, warum die Menschen mit Rot-Grün „abgeschlossen“  haben!

Die Demoskopen prophezeien derzeit eine SPD-Niederlage von historischem Ausmaß, was weitere Wechselwähler in die Arme der vermuteten Sieger treiben könnte. Deshalb will Schröder nach Informationen des SPIEGEL ab sofort aggressiver auftreten. Er soll stärker als bisher die CDU/CSU-Kanzlerkandidatin und vor allem deren Wahlprogramm attackieren. (SPIEGEL-ONLINE, 20. 08. 2005)

Sollte ich mich in meiner Analyse nicht geirrt haben, so wird sich für den Kanzler das, was er unter „Aggressivität“ versteht, als das erweisen, was sie bisher auch schon gewesen ist: nicht nur nutzlos, sondern sogar kontraproduktiv! Es ist und bleibt definitiv der falsche Weg,

Denn der Volksmund sagt: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht – und wenn er auch die Wahrheit spricht. Diese und andere Weisheiten haben sich die „bürgerlichen“ Wahlkampfstrategen zueigen gemacht, indem sie sieben Jahre lang den Kanzler publizistisch als Lügner. und Betrüger etc vorgeführt und damit – fern jeder Ethik und Moral – eine Saat der Ehrabschneidung ausgebracht haben, die wir jetzt aufgehen sehen!

Woran also ist der Kanzler wirklich gescheitert?

Ich denke: er scheiterte letztlich an sich selbst, genauer gesagt: an der offensichtlichen Inkompetenz des Kanzlers,

  • den Schröder Gerhard vor den ethischen und moralischen Grenzüberschreitungen seiner Gegner zu schützen,
  • den ethisch und moralisch Unverschämten im Lande nachdrücklich die Leviten zu lesen,
  • im persönlichen Zweikampf – hier: gegen Elmar Brandt bzw. die Karnevals-Verantwortlichen  – seine mediale Kampfkompetenz dadurch unter Beweis zu stellen, dass Schröder vor allem seinen Sympathisanten – aber auch seinen Verächtern – professionell vorgeführt hätte, wie man unter den Bedingungen der verschärften medialen Klassenkämpfe seine eigene Würde und seine Souveränität „souverän“ – also ohne Hilfe anderer – wieder herzustellen versteht.

Die Möglichkeit des Scheiterns aus diesen drei Gründen habe ich bereits vor anderthalb Jahren parteiintern zur Diskussion gestell. Und wenn Schröder von „Mut“ spricht, so halte ich dagegen: Mut erweist sich mir im persönlichen Zweikampf mit meinem wirklichen Gegner!

Mein Fazit: Die wirklich entscheidende Kampfkompetenz hat sich Gerhard Schröder nicht angeeignet,

  • was ihn am 22. 5. – da sehe ich auch keinen moralischen Unterschied zum Verhalten von Lafontaine und Gysi – veranlasste, das Handtuch zu werfen.
  • was ihn jene die wirklich (!)´die Wahl entscheidenden Glaubwürdigkeits-Prozentpunkte – 54 Prozent „Popularität“ sind nicht 61 Prozent – kosten wird.
  • weshalb er am 18. 09. 2005 als Kanzlerkandidat oder – im Falle seiner Wiederwahl – in Kürze als Kanzler erneut scheitern wird! Wie bereits die SPD[4]!

Die verlorene Ehre der Katharina Blum.

Nicht nur wer sie verspielt, sondern auch wer sich seine Ehre nehmen lässt gilt als ehrlos – und ehrlos zu sein ist ein Stigma, das bei vielen Menschen noch nicht einmal durch Spitzenleistungen – die er, systemstabilisierend beurteilt, gebracht hat – aufgehoben werden könnte!

Wer die Nimbuszerstörung, die früher „Majestätsbeleidigung“ genannt wurde, zulässt, der hat auch und gerade bei jenen ausgespielt, die dieses Spiel am nachhaltigsten betreiben! Das ist nun mal die Dialektik zwischenmenschlicher Beziehungen, von der man auch in Zeiten medial ausgetragener Klassenkämpfe das Wesentliche verstehen muss, will man Politik (-Beratung) erfolgversprechend betreiben:

Wer sich entwürdigen lässt, der wird dafür auch noch verachtet und bestraft!


[1] Überarbeitete Fassung vom 17. 08. 2005; sie basiert auf meinem Vortrag „13 Thesen zum Thema Die Zukunft der SPD als Mitgliederorganisation vom 31. März 2004.

[2] Thomas Meyer beschrieb Schröders Führungsstil 1997 so: „Statt dessen hat er die Differenzen übermäßig akzentuiert, vor allem gegen den damaligen Parteivorsitzenden Rudolf Scharping, und sehr geschickt die Kriterien bedient, nach denen Journalisten ihre Meldungen auswählen: Personalisierung, Konflikt von Prominenten, inhaltlicher Tabubruch, womit er sich noch als Wirtschaftsmann herausstellen konnte. Außerdem ist er authentisch: Er tritt seinem Image gemäß auf.“

[3] )  „Schröder zahlt mit seinem Amtsverzicht einen politischen Preis, weil er die Steuern gesenkt, den Kündigungsschutz abgeschwächt und die Sozialleistungen gekappt hat – alles alte Forderungen des Arbeitgeberlagers. Da wäre es eine nette Geste, wenn jedes Unternehmen gleich morgen ein paar neue Leute anstellen würde. Geld sollte keine Ausrede sein, denn jedes Budget gibt einige zusätzliche Stellen her. Tun das Millionen von Firmen auf einmal, lernen die Bürger, dass Reformen sich lohnen, und stehen weiteren Schritten künftig aufgeschlossener gegenüber. Zögern die Manager hingegen, kehrt Bitterkeit ein, denn die Reformen haben in den Augen der Mehrheit dann nichts gebracht.“ Aus:  SPIEGEL ONLINE 09. 02. 2004; Christoph Keese ist heute Chefredakteur der Financial Times Deutschland (2004: Die Welt)

[4] Peter Glotz.doc: über die „Enkelei”, Scharping, Lafontaine und Schröder: „Jetzt liegt die Partei der achtziger Jahre, die in den Neunzigern zur Erneuerung unfähig war, in Trümmern“. (FAZ 27. 08. 2005)

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4 Antworten zu „Typisch Schröder“ – oder: woran der Kanzler wirklich scheiterte

  1. blogfighter schreibt:

    Das ERKENNTNIS-NIVEAU der Plappernden Kaste am 06. April 2014 um 20:34 Uhr:

    SPD fehlt das Schröder-Gen

    Von Florian Gathmann

    Erst diskutiert die SPD auf einer Regierungskonferenz, dann feiert sie den 70. Geburtstag des Altkanzlers. Es wird an diesem Tag klar, was die Sozialdemokraten von Gerhard Schröder lernen können: Selbstbewusstsein.

    Berlin – Er ist dann doch auch stolz, dass seine Partei ihn so feiert. Nach all den Jahren, all den Zerwürfnissen. Es ist gekommen, wer Rang und Namen in der Partei hat, dazu viele prominente Begleiter aus Wirtschaft und Kultur. SPD-Chef Sigmar Gabriel sagt in seinem Grußwort über Gerhard Schröder: „Es ist mir eine Ehre, einen der ungewöhnlichsten sozialdemokratischen Politiker zu würdigen.“

    Schröder, der am Montag 70 Jahre alt wird, strahlt. Braungebrannt, das Kinn leicht vorgereckt, die typische Schröder-Haltung. Er bedankt sich bei seiner Partei für die Sause im Hamburger Bahnhof. „Ich bin froh darüber, dass ich hier sein darf“, sagt Schröder. Aber vor allem, das merkt man ihm an, ist Schröder in diesem Moment stolz auf sich selbst. Dass er es so weit gebracht hat.

    Selbstbewusstsein. Das hatte einer wie Gerhard Schröder immer im Überfluss. So viel, dass es zu guten Zeiten gleich für ihn und eine ganze Volkspartei reichte. Erst jagten Schröder und die SPD 1998 Helmut Kohl nach 16 Jahren das Kanzleramt ab, dann machten sie sich gemeinsam mit den Grünen daran, das Land und die Gesellschaft zu verändern. Die Agenda-Politik setzte man sogar gegen massive Widerstände in der Bevölkerung durch, aber das war schon mehr Schröder als die SPD. Schließlich spielte er alles oder nichts, da war seine Partei schon zerrissen, und setzte 2005 Neuwahlen durch – das Ende ist bekannt.

    Zum Teil ist Schröder also verantwortlich dafür, dass die SPD bundespolitisch seit einem knappen Jahrzehnt nicht mehr auf die Beine kommt, dazu kommt seine geschäftliche Nähe zu Russlands Präsident Wladimir Putin, die dieser Tage besonders problematisch erscheint – andererseits wäre ein bisschen Schröder genau das, was die Genossen bräuchten: Mut, manchmal vielleicht sogar ein bisschen mehr. Zu seinen Kanzlerzeiten war häufig von Chuzpe die Rede.

    Immerhin hat es seine Partei inzwischen wieder in die Bundesregierung geschafft, wo die SPD seit Monaten ein sozialdemokratisches Projekt nach dem anderen umsetzt. Das Problem aus Genossensicht ist bloß: Die Bürger scheinen es nicht zu honorieren.

    (…)

    http://www.spiegel.de/politik/deutschland/spd-und-gerhard-schroeder-der-altkanzler-feiert-70-geburtstag-a-962855.html

    Mehr auf SPIEGEL ONLINE:

    Fotostreckel: Gerhard Schröder wird 70
    http://www.spiegel.de/fotostrecke/ex-kanzler-gerhard-schroeder-wird-70-jahre-

    © SPIEGEL ONLINE 2014

  2. profiprofil schreibt:

    Der Blender Guttenberg hat die Quintessenz meiner Kritik verstanden und alles auf die „Ehr“-Karte gesetzt, selbstredend mit unehrenhaften Blendmitteln!

    Der wirklich gebildete Gustav Seibt greift in der SZ vom 24. 2. 2011 meinen Gedanken von 2005 auf:

    Der Herr des Verfahrens

    Guttenbergs putschistischer Regelverstoß: Eine Dissertation zum deutschen Konservatismus

    Doch ihm fehlt die Quintessenz. Lies dazu auch meinen Leserbrief auf SPON-Forum.

  3. profiprofil schreibt:

    Die Quintessenz meines Essays aus 2500 lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass ein wesentlicher Grund für den Ausverkauf Deutschlands an das raffende Kapital (nach Müntefering „Heuschrecken“) auch – und nicht zuletzt – in der geltungssüchtigen Psyche des Aufsteigers Gerhard Schröder zu suchen ist, dem OPFERMENTALITÄTER in ihm, dem ich ja 2008 auch das „10. Gespräch“l meines Buches gewidmet habe.

    Eine Untermauerung dieser These ist auch der folgenden Passage eines absolut (!) lesenswerten SPON-Artikels zu entnehmen:

    Die verdrängten Sünden der Heuschrecken-Bändiger

    Ludwig Poullain ist ein Mann von 88 Jahren, alte Schule. Er stand von 1968 bis 1977 an der Spitze der WestLB und war von 1967 bis 1972 Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbandes.

    Vor bald fünf Jahren, im Juli 2004, wollte Poullain eine Rede halten, die er nicht halten durfte, die dann aber doch bekannt wurde. Sie handelte von Redlichkeit und Ehrlichkeit, von Bankiers-Ehre. Die Motivation der Investmentbanker erschöpfe sich „im schnellen Geldmachen“. Darum, ihr Bankleute, schrieb Poullain, „wartet nicht bis die Tide kippt. Sagt, was ihr denkt und tut, was ihr sagt. Öffnet eure Gesichter!“

    Poullain hat zu Amtszeiten mit Karl Schiller einen gepflegten Whisky getrunken. Schröder, sagt er, sei den Ackermännern komplexbeladen begegnet und habe ihnen keine Steine in den Weg gelegt. „Wer nicht das Glück gehabt hat, in einem Elternhaus mit Wärme und Liebe und Geborgenheit aufgewachsen zu sein, der hat es im Leben später schwer. Er hat Komplexe aufgebaut.“

  4. profiprofil schreibt:

    Typisch Schröder – oder: warum die SPD den Kanzler für unersetzlich hält.
    Eine Polemik von Gerd Weghorn
    (27. 9. 2005)

    Von Ulla Thiede und Thomas Wittke lese ich heute unter der Schlagzeile

    „Es geht nicht um mich“: Die Sozialdemokraten setzen sich nach außen für eine geschlossene Unterstützung der Kanzlerschaft Gerhard Schröders ein. (GA 27. 09. 2005)

    Um wen geht es denn dann?

    „´Es geht um uns´, soll er dem Vorstand und Parteirat gesagt haben. Er lässt offen, ob er den wütenden Anspruch des Wahlabends weiter aufrecht erhält, macht aber auch deutlich, dass es keine große Koalition ´um jeden Preis´ geben werde. Es wäre ein strategischer Fehler, das Unions-SPD-Bündnis als ´kleineres Übel` im Vergleich zur Oppositionsrolle zu betrachten.“ (ebenda)

    Ja: wer spricht denn da? Der Parteivorsitzende ist es nicht, denn den Parteivorsitz hat GS schon vor Jahresfrist hingeschmissen, weil er einen anderen dafür als besser geeignet angesehen hatte. Nein, es ist derjenige, der nach der neunten in Folge verlorenen Landtagswahl am selben Abend des 22. Mai den Neuwahlcoup mit der Begründung gelandet hatte, für „stabile Verhältnisse“ sorgen zu wollen. Dass stabile Verhältnisse bei einer Neuwahl mit Rot-Grün nicht, sondern nur mit den Schwarzen zu erreichen sind, hätte auch er sich an fünf Fingern abzählen können. Schenkt man also großzügig dieser seiner Begründung Glauben, dann ist seine oben zitierte Aussage über Opposition als das „kleinere Übel“ zumindest unverständlich.
    Der SPIEGEL macht am 30. Mai – in einem alten rheinischen Karnevalslied heißt es: Am dreißigsten Mai ist der Weltuntergang – mit dem Titel „Der Untergang“ auf – und dies in Anlehnung an den gleichnamigen Film über den GröFaZ. Ich fand das schon damals zutreffend, und zwar in jeder Beziehung!

    Wie man nachlesen kann , habe ich – als einsamer Rufer in der Wüste – bereits lange vor der Wahl (s. o.) den Neuwahlcoup als das hingestellt, was er ist: Ausdruck eines absolutistischen Herrschaftsgebarens , wie es zuletzt der Reichskronjurist Carl Schmitt Reichskanzler Adolf Hitler anempfohlen hatte.

    Jetzt, gut einen Monat später, trauen sich auch andere Kommentatoren, die Ungeheuerlichkeit beim Namen zu nennen und anzuprangern, die sich Schröder und die SPD-Führung mit der Selbst-Auflösung des Reichstages – sorry: des Bundestags – geleistet hat. Hier möchte ich nur die trefflichste Zusammenfassung meiner These zitieren, dass es sich beim Schröder-Münteferingschen Neuwahlcoup um das gehandelt hat, was man 1920 als einen Putsch bezeichnet hätte:

    Die Parteipolitik und die Verfassungsorgane in Deutschland erleben und erleiden seit dem Sonntagabend, was es mit dem Fluch der bösen Tat (Hervorhebung GW) auf sich hat: Sie alle – Bundeskanzler, Bundestag, Bundespräsident und Bundesverfassungsgericht – haben die Verfahrensregeln des Grundgesetzes verbogen, weil sie partout die Neuwahl des Bundestages haben oder sich ihr jedenfalls nicht in den Weg stellen wollten. Nun haben sie die Quittung. Das Parlament hatte einen Amtsauftrag von vier Jahren; nur unter extremen Umständen soll es vorzeitig aufgelöst werden. Die Umstände waren nicht extreme, sie schienen nur günstig. Nun sind für diejenigen, die die Neuwahl betrieben haben, die letzten Dinge schlimmer als die ersten.

    Sicher, alle hatten ihre Gründe – nur: Mit dem Grundgesetz hatten all diese Gründe wenig zu tun. Der Bundeskanzler, der Bundestag und seine Fraktionen, auch der Bundespräsident, ja auch er, der ein Hüter der Verfassung sein soll, haben den Artikel 68 vergewaltigt, um ihre politischen Wünsche und Hoffnungen zu befriedigen, oder haben sich, wie das Verfassungsgericht, dem nicht in den Weg gestellt. (Heribert Prantl in: SZ vom 23. 09. 2005)

    Nachtrag: auch in 2007 hat der II. Senat des BVerfG die Umfunktionierung von Art. 24.2 GG sanktioniert. (Begründung im 2. Abschnitt)
    Was mir seit Jahren nicht mehr rätselhaft ist, das ist das Verhalten von Gerhard Schröder, das m. E. von Geltungssucht bestimmt ist. In meiner Sicht also handelt es sich beim Politiker Schröder um eine gekränkte – und damit kränkbare – Persönlichkeit, die man bedauern könnte, wenn, ja wenn speziell diese Krankheit sich nicht gerade dadurch auszeichnete, dass sie – hier als Führungs- und Kampfkompetenz getarnt – die Bekämpften und Geführten, also nicht nur die Feinde, sondern auch die Gefolgschaft und die Anhänger, mit in den eigenen Untergang zu ziehen vermag.

    Was mich also beängstigt, das ist dieses aus der Geschichte nur allzu bekannte Mitläuferverhalten, ich meine: die evidente Unfähigkeit der Profiteure und Genasführten, dem Putschisten in den Arm zu fallen und seinem Theaterspiel ein Ende zu bereiten, ihm mitzuteilen, dass zumindest die republikanische Garde – und hiermit bezeichne ich ausdrücklich die vom Volk gewählten und nur ihrem Gewissen verantwortlichen Abgeordneten der SPD-Fraktion – die eingeforderte und bisher „geschlossen“ (s. o.) geleistete „Gefolgschaft“ nicht länger zu leisten gewillt ist, dass – um im Bild zu bleiben – einige Rotgardisten über den Schatten ihrer eigenen Feigheit springen und den Despoten durch Verweigerung ihrer Unterstützung zur Abdankung zwingen. Ohne die SPD-Fraktion ist Gerhard Schröder doch „gestorben“ – aber warum herrscht dort die Meinung vor, dass umgekehrt ohne das Oberhaupt die eigene berufliche Zukunft gefährdet wäre?!!

    Was mich also nteressiert ist: Wer repräsentiert in diesem opportunistischen Verein von Karrieristen das „Kind“, das dem geltungssüchtigen Herrscher und seiner abgekanzlerten Entourage / Bagage die Wahrheit sagt, die da lautet: „Der hat ja gar nichts an!“ (H. C. Andersen)

    Wir erinnern uns: dies hat , in einer historisch vergleichbaren Situation, bisher einzig eine Frau geschafft – und niemand in ihrer Partei konnte sie 2005 daran hindern, als Kandidatin für das de facto höchste Staatsamt anzutreten – und damit der ganzen Nation eine wirkliche Herausforderung aufzubürden.

    Ich geißele Gerhard Schröder zwar nicht als einen „Tyrannen“, doch ich denke, dass Alice Schwarzer mit folgender Behauptung eine diskussionswürdige Meinung äußert:

    Der Schröder-SPD geht es in der Tat schon lange nicht mehr um das Wohl der Partei oder gar Deutschlands, nein: Es geht darum, daß ein Mann sein Gesicht nicht verliert. Es geht um Männerehre. Und wenn die verletzt wird, sieht ein echter Mann bekanntlich rot.

    Natürlich: Alice Schwarzer und ich, wir polemisieren, d. h. wir skandalisieren Zustände, die viele als „ganz normal“ ansehen. Der Grund ist unsere Befürchtung, soziale und demokratische Errungenschaften gegen ein Linsengericht einzutauschen.

    So frage ich mich und andere, wie es nur dazu gekommen ist, dass auch die SPD – sowohl die Partei, als auch die Bundestagsfraktion – zum autoritär beherrschten Kanzlerwahlverein verkommen konnte, eine Entwicklung, die nicht nur die von Schröder konstatierte „Unzuverlässigkeit“ – sprich: Eigensinnigkeit – der Regierungsfraktion hervorgerufen, sondern die auch zur erfolgreichen Gründung jener Wahlalternative geführt hat, die sich momentan als Linkspartei.PDS bezeichnet?!

    Ich bin mir mit meiner Antwort noch nicht ganz sicher, doch ich vermute, dass diese Fehlentwicklung einer Tatsache geschuldet ist, über die ein Berufspolitiker aus verständlichen Gründen nicht spricht, der Tatsache nämlich, dass das Parlament – und damit der Parlamentarier – de facto entmachtet worden ist. Zur Erinnerung seien hier nur die US-amerikanische Regierung, die sie stützenden Konzerne, das spekulative Finanzkapital (2005!) – verniedlichend „Heuschrecken“ genannt – oder die Europäische Kommission erwähnt, die allesamt der Auffassung sind, dass der deutsche Sozialstaat ein Hindernis für das ist, worum es „eigentlich“ geht: die Herrschaft des auf der Geltungssucht basierenden maßlosen Renditedenkens – verniedlichend Shareholder Value genannt.

    Diesem „neoliberalen“ Vorstoß hat die Mehrheit der deutschen Wahlbürger am 18. September eine Abfuhr erteilt und damit die Bildung einer Großen Koalition vorgeschrieben.

    Ich kann dieser Problemlösung vor allem eines abgewinnen, und das ist: die größere Freiheit des einzelnen Abgeordneten. In einer Großen Koalition, in der es nicht auf jede Stimme ankommt, könnten sich die zukünftigen politischen Führungskräfte relativ ungestraft profilieren, könnten sie neue Denkansätze aufnehmen, fraktionsübergreifend diskutieren und in einer nicht fernen Zukunft das alte, längst überholte und – wie wir es momentan studieren können – bereits kontraproduktive Parteiensystem durch ein „den Verhältnissen“ besser entsprechendes parlamentarisches Gesetzgebungs- und Regierungssystem ersetzen.

    Jeder weiß es inzwischen: wir brauchen in Deutschland tiefgreifende Strukturreformen, die auch im parlamentarischen Raum beide Bedingungen der Effizienzsteigerung erfüllt: eine allseitige (fraktionsüberschreitende) Kooperation und eine einseitig / eindeutig zuzurechnende Regierungsverantwortlichkeit.

    Der effizienzabwürgende Fraktionszwang und die skandalisierende Personalisierung von Politik ist endlich als Aufforderung zur Neubestimmung der „Stellenbeschreibungen“ von Mitgliedern der Legislative und der Exekutive zu interpretieren – und dazu bietet eine große Koalition die beste Plattform, die man sich gegenwärtig vorstellen kann!

    So sehe ich auch hier die „List der Geschichte“ am Werk, derzufolge Fortschritte nur dann gemacht werden können, wenn der Leidensdruck auf die Spitze getrieben wird – wozu nicht jeder Politiker imstande ist!

    Wohl aber unser Gerhard Schröder: Und dafür ist er unersetzlich!

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