Wirklich denken lernen

Christophe Rude ist zuzustimmen, wenn er sagt: „Unsere Erfahrung ist, dass Kinder, die im Denken Fortschritte machen, besser zuhören und sich auch besser artikulieren können“ Und auch dann, wenn er Erwachsenen davon abrät, die WOZU-Fragen eines Kindes – und nur diese sind „philosophische Fragen“ – direkt zu beantworten, statt „zurückzufragen: Wie meinst du das? Was denkst du darüber?“ Kritikwürdig hingegen ist seine Empfehlung an die vom Kind angesprochenen Eltern und Lehrer, „sich zurückzunehmen und Gespräche nicht zu lenken.“ Und kritikwürdig ist auch seine Begründung: „Sie müssen den Kindern etwas zutrauen, nämlich eigenständig zu denken.“[1]

Um „Eigenständigkeit“ als Wert an sich geht es aber auch hier mitnichten. Hätte Rude formuliert, dass man Kindern „zutrauen“ müsse, „denken zu können“, dann wären ihm wohl selbst die von mir geäußerten Zweifel gekommen: Denn abgesehen davon, dass es per Definition kein uneigenständiges Denken geben kann, gibt es auch kein „Denken“ als solches, kein Denken an sich. Denken ist immer wirklich, also immer interessen- und objektbezogen, weshalb es sich beim juristischen, handwerklichen, biologischen, ökonomischen etc. Denken um Qualifikationen handelt, die kulturell geprägt sind und die deshalb auch fachsystematisch gelehrt und erlernt werden müssen (wozu bräuchten wir denn sonst Fachlehrer, Berufsausbilder und auch Professoren?)

Worauf es in der Bildungs- und Erziehungsarbeit also wirklich – sprich: erfolgverspechend – ankommt, das ist die „lenkende“, die führende Rolle der dafür qualifizierten Bezugspersonen Vater, Mutter, Lehrer etc.. Nun kann man sich als Kind seine Eltern nicht aussuchen, aber wir Eltern müssen erwarten, dass wenigstens die Lehrer unserer Kinder „wirklich“ denken können – und dass sie imstande sind, diese pädagogisch-fachliche Beziehungs- und (Gesprächs)Führungskompetenz sowohl methodisch als auch inhaltlich unter den gegebenen (meist suboptimalen) Rahmenbedingungen professionell umsetzen zu können.

Statt also den Selbstlauf als Motor des Lernfortschritts zu propagieren, sollten Aus- und Weiterbildung den Lehrer im Gegenteil dafür qualifizieren, Schülerinnen und Schüler durch eine zielorientierte Gesprächsführungskompetenz überhaupt erst mit erfolgversprechenden, also erkenntnisfördernden und praxisrelevanten Methodiken des philosophischen (mathematischen, germanistischen etc.) Denkens und Kommunizierens bekannt zu machen – und diese tagtäglich auch einzuüben.

Wirklich – und nicht etwa illusionär, voluntaristisch, egoistisch etc. – denken und kommunizieren zu können, das erweist sich – wie in diesem Leserbrief praktisch vorgeführt – als Qualifikation primär in der Qualität meines Umgangs mit dem Widerspruch: Wer also nicht auch Kinder durch die in einer kritischen Würdigung ihrer Leistungen erlebbare persönliche Herausforderung zu fördern vermag, „der taugt zu seinem Amte nichts.“ (Hans Christian Andersen)


[1] Mein Leserbrief in der SZ. (Alle Zitate aus einem Interview mit Prof. Dr. Christoph Rude (München): „Der Unterricht erstickt das Fragen“. In: SZ vom 17. November 2008)

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