Zum „bürgerlichen“ Demokratieverständnis
Seine exzellente Beschreibung der „neuen“ Bürgerlichkeit – „links-konservativ-bürgerlicher Grünenliberalismus“ – sowie des politischen Mainstream eröffnet Gustav Seibt im Feuilleton der SZ vom 2. 7. 2010 mit der zutreffenden Feststellung: „Das parteipolitische (!) Kalkül, das hinter der Nominierung von Joachim Gauck fürs Amt des Bundespräsidenten natürlich (!) stand, ist in glänzender Weise (!) aufgegangen“, ein Lob, das an gleicher Stelle von Jens Bisky geteilt und in die Doktrin gepresst wird: „ Die geschichtspolitische Unvereinbarkeit von SPD und Linken haben wir eindrucksvoll vorgeführt bekommen.“
(Sie gestatten eine Zwischenfrage, Herr Bisky, Herr Seibt: Wer ist „WIR“?!
Seibt: „die Linkspartei wurde für (sic) die Augen jedenfalls der urbaneren Teile der gesamtdeutschen Gesellschaft ihrer konzeptionellen Nichtigkeit überführt.“ Sehr anschaulich formuliert, Herr Seibt, doch wer ist dieser „urbanere“ Teil jener von Ihnen bemühten „gesamtdeutschen (?!) Gesellschaft“ ? Seibt: Gemeint sei ein „aufgeklärtes, in vielen Zügen kulturell stromlinienförmiges Publikum“ – auf den Begriff gebracht also: der ideelle SZ-Abonnent!)
Was hier über den Klee gelobt wird, das aber ist in Wirklichkeit die skrupellose Instrumentalisierung eines Verfassungsauftrags für parteipolitische Zwecksetzungen: „Eine Partei“, die Rede ist von der DL, „die bei einer solchen (?!) Wahl nicht in der Lage (?!) ist, einen Bundespräsidenten zu wählen, ist in der Bundesrepublik immer noch nicht angekommen“, gibt der Grünen-Politiker Werner Schulz zu Protokoll und glaubt wohl, mit dieser arroganten Einstellung, die von keinem Verfassungsverständnis getrübt ist, jene von ihm – vordergründig – heftig bekämpfte SED-Doktrin von der Pflicht zur Stimmabgabe für eine bestimmte Richtung mental überwunden zu haben. Das Gegenteil aber ist der Fall: es ist unser Herr Schulz, der „noch nicht angekommen“ ist, jedenfalls nicht „auf dem Boden des Grundgesetzes“.
Auch Gustav Seibt wird dem entliehenen Titel seiner Kolumne – „Mehr Demokratie wagen“ – nicht gerecht, wenn er der Linkspartei vorwirft, nicht so abgestimmt zu haben, wie er und Herr Bisky sich das wünschen: nämlich gefälligst Herrn Gauck zu wählen! Und nicht Herrn Wulff! Als ob dieser – man sollte Karl Marx nicht nur bemühen, sondern auch verstehen – den „Bourgeois“ verkörperte und nicht zugleich (! [1] diesen spezifischen „Citoyen“, der sich doch nach seiner Auffassung „längst (!) auf alle Parteien verteilt“. Warum und wozu, Herr Seibt, dann überhaupt noch „Parteien“ (im ursprünglichen und einzig richtigen Verständnis von pars pro toto), wenn Sie unter Demokratie als Staatsform die Herrschaft jenes „Honoratiorenliberalismus“ präferieren, der heute „am ehesten bei den Grünen zu finden“ sei – was, bedauerlich, aber wahr, wiederum den Tatsachen entspricht?!
Eigentlich weiß aber zumindest Herr Seibt um die Gefährdung des sozialstaatlichen Demokratiebegriffs des Grundgesetzes durch die weit verbreitete, so gut wie ausschließlich von ihm und seinesgleichen produzierte „Politikerverdrossenheit“ – „In dieser Situation wächst (!?) ein Ungenügen am Parteienbetrieb (!), das fatal ist (!), weil es der Knochenmühle, zu der Politik als Beruf (!) heute geworden ist, überhaupt nicht gerecht wird. Von dieser (!) Stimmung aber konnte Joachim Gauck mehr profitieren als von spezifischen Positionen, die man ihm zuschreiben könnte“, doch Seibt „sympathisiert“ nichtsdestotrotz genau mit dieser problematischen Stimmungsmache, wenn er schreibt: „Moderne, engagierte, und nun erstmals wieder (!) plebiszitär gestimmte Bürgerlichkeit, das ist es, was die (wen eigentlich?) überwältigende Resonanz auf Joachim Gaucks Kandidatur ans Licht brachte.“ (Die Causa Gauck war ausschließlich ein Medienhype, für dessen Beatmung („atmende Partei“ – Gabriel / Nahles) die SPD-Führung auch noch die suspektesten „Unterstützer“ [2] zu „gewinnen“ wusste!)
Und (im Gegensatz zu Bisky und Schulz) wird er – entgegen seiner oben zitierten Abwertung – begriffen haben, dass durch die „dauerhafte Etablierung der Linkspartei und das Abschmelzen der Volksparteien“ (Seibt) die Regierungsbildungsfähigkeit der SPD vom Einverständnis der Linkspartei (oder der CDU/CSU) abhängt – und nicht umgekehrt! [3]
Und er wird begreifen müssen, dass deshalb endlich auch die SPD-Führung aus dem „überwältigenden“ Niedergang der Partei lernen und zumindest das nachholen muss, was Die Linke bereits (in guten Ansätzen) geleistet hat: den professionellen Umgang mit strategischen Fehlern aus ihrer eigenen Vergangenheit. Zitat Gesine Lötzsch (Parteivorsitzende DL): „Wir werden uns nie von unserer Geschichte trennen können.“
Pointiert formuliert muss exakt das Führungspersonal der SPD schlussendlich begreifen, dass auch der „Kellner“ so wertvoll ist wie der „Koch“, dass es also ein- für allemal vorbei ist mit seinem herrischen, gebieterischen Politikverständnis von „Demokratie nach unserer Gutsherrenart“!
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[1] Diesen WIDERSPRUCH muss man gedanklich verkraften können: „Der Widerspruch, in dem sich der religiöse Mensch mit dem politischen Menschen befindet, ist derselbe Widerspruch, in welchem sich der bourgeois mit dem citoyen, in welchem sich Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft mit seiner politischen Löwenhaut befindet.“ (Karl Marx: Zur Judenfrage. 1843 In: http://www.mlwerke.de/me/me01/me01_347.htm )
[2] “ Seit Freitag erreichten über 3 Millionen E-Mails die Postfächer der Mitglieder der Bundesversammlung – Wir sind Demokratie in Aktion! Die Medien schreiben, dass unsere Kampagne für „deutsche Verhältnisse beispiellos“ sei und es ist klar, dass unsere Stimmen gehört wurden.
[3] S. Gabriel, der Fähnchenschwenker, hat diese Lektion schon einen Tag später gelernt, nachdem er sich eingestanden hatte, dass a) Gauck niemals gewählt worden wäre und dass b) 73% der Deutschen Herrn Wulff für einen guten Bundespräsidenten halten: Gabriel sendet Versöhnungssignal an Linke –
Wulff hin, Gauck her: Die Linke hat auch Herrn Wulff nicht gewählt, hatte sie doch ihre eigene Kandidatin aufgestellt gehabt.
Wie von mir – dank wirklich denken können – prognostiziert:
Franz Walter (FW) kommt in der FR vom 3. 7. zur gleichen Bewertung der „Strategie“ von Gabriel und Trittin wie ich: