WIRKLICH denken können!

Essay zum Thema „wirklich lesen, genauer: wirklich denken können“[1].

Mit dem Aufmacher „die Deutschen lesen immer weniger“ wird von der „Stiftung Lesen“ zum dritten Mal seit 1992 auf ein gesellschaftliches Phänomen hingewiesen, nämlich auf das „Verschwinden des klassischen Gelegenheitslesers“. Diese Aussage soll von mir auch nicht angezweifelt werden, jedoch provoziert die zwischen den Zeilen mitschwingende Bestürzung ob dieser säkularen Tendenz bei mir zwei denkwürdige Frage- und Feststellungen, also „wirkliche“ Denkanstöße, wie ich sie nenne:

Da ist zum einen die Frage nach der Definition und der Bedeutung – sprich: dem WERT – von „Lesen“ zu stellen und zu beantworten: was also ist das wirklich, das „Lesen“? Auffällig ist ja schon die unterschiedliche Verwendung dieses Wortes, sei es als Metapher für das Besitzen von Büchern, für das Benutzen von Geschriebenem – oder sei es als Synonym für das Verstehen von Geschriebenem.

Wie von der „Stiftung Lesen“ zutreffend festgestellt wird, so ist der Besitz und das Benutzen von „Büchern“ abhängig von den „Lesegewohnheiten“ der Eltern, (bei denen es sich in der Hauptsache um weibliche „Gelegenheitsleser“ handeln dürfte). Was ich aber vehement anzweifele, das ist die Feststellung der zitierten Pisa-Studie, derzufolge in Deutschland nur „jeder fünfte 15-jährige beim Verstehen von Texten Probleme“ haben solle. Meine provokative Gegenthese lautet, dass die Erkenntnis von Gesetzmäßigkeiten – und dadurch überhaupt erst das wirkliche Verstehen eines Ereignisses, einer Äußerung oder eines Verhaltens – von so gut wie keinem (vielleicht mit Ausnahme seiner beruflichen oder hobbymäßigen Sachkompetenz) professionell beherrscht wird![2] Denn dazu müsste er sich ebenfalls qualifiziert, also die Fähigkeit / Kunst erlernt haben, im jeweiligen Rollenfeld (Mitarbeiter, Kollege, Vorgesetzter, Fortbildung, Eltern, Partner, Kunde etc.) wirklich denken zu können.  Zu können!

Da ist dann zum zweiten die Frage, wie sie denn aussehen müsste, die von der „Stiftung Lesen“ geforderte „Sprach- und Leseförderung in Kindertagesstätten und Schulen“?

Ich widerspreche dieser Forderung insofern, als ich behaupte, dass es in allen Sozialisationsprozessen nicht um eine „Sprach- und Leseförderung“, sondern dass es vielmehr um eine „Denkförderung“ gehen müsste, genauer gesagt: um die Entwicklung und optimale Vermittlung von allgemeinbildenden und fachspezifischen Denkweisen, Methoden, Umgangsformen zum Zwecke der Aneignung von Wissen. Es reicht also nicht hin, Menschen „ans Lesen“ zu bringen, sondern es muss vielmehr gelingen, Menschen – wie hier exemplarisch vorgeführt – zu befähigen, für sich selbst und für Dritte den persönlichen Gebrauchswert eines Buchs etc. erkennen zu können, was darauf hinauslauft, um seine eigenen Interessen zu wissen und die des Autors erkennen, verstehen und kommunizieren zu können!

Ein Beispiel: Wenn B. Brecht mit der Inschrift „Glotzt nicht so romantisch!“ den Theaterbesucher zum WIDERSPRUCH provoziert, dann liegt dieser Herausforderung sein Autoren-Interesse zugrunde, vom Zuschauer / Zuhörer / Leser wirklich verstanden zu werden, und zwar zu dem Zwecke, dadurch von diesem mit kritischen Würdigungen / Rückmeldungen belohnt zu werden, dass er sowohl an persönlichen wie an gesellschaftlichen Lernprozessen („Fortschritt“) teilhaben kann.[3]

These: Die Fähigkeit, wirklich – und nicht etwa illusionär, voluntaristisch, egoistisch – „denken“ zu können ergibt sich nicht im Selbstlauf, weshalb also (leider) die Aussage als illusionär und voluntaristisch zu werten ist, dass derjenige, der „liest“, quasi automatisch lernen würde, „sich auszudrücken, seine Gedanken zu ordnen und (…) außerdem mit der oft chaotischen Welt des Internets kompetenter umzugehen, weil er Dinge einordnen und längere Text verstehen kann.“[4] Nichts davon kann er per se, denn – noch einmal sei´s gesagt – nicht aufs „Lesen“, sondern darauf kommt es an, sowohl meine Interessen, als auch den Aussagewunsch meines Gesprächspartners wirklich zu verstehen! Und das heißt: wer von „Kommunikation“ spricht, ohne selbst am Verständnis der Aussage-Interessen des Autors, des Gesprächspartners etc. interessiert zu sein, der lernt halt nichts dazu und macht deshalb auch keinen (Lern)Fortschritt!

Ein solches „Gelegenheitslesen“ dient – vollkommen berechtigt – der Muße, der Entspannung, der Selbstbestätigung etc.. Doch nicht der Aneignung bzw. Vervollkommnung von (Selbst)Erkenntnis, von Wissen, ergibt sich das doch auch beim Lesen nur – wie hier exemplarisch vorgeführt – aus dem professionellen Umgang mit dem sachlichen WIDERSPRUCH.

Und der muss fachsystematisch erlernt werden!

Gerd Weghorn, Bonn

07. 12. 2008


[1] Als Reflex verfasst auf „Die Deutschen lesen immer weniger“ und „Bücher bleiben wichtig“ l In: Süddeutsche Zeitung vom 5. 12. 2008

[2] Zitat: „Weniger Wissen und weniger Verständnis: Auch wissen die Jüngeren wesentlich weniger. Die Ergebnisse des Multiple-Choice-Tests wirken teilweise wie gehobenes Raten: So konnten nur knapp 30 Prozent der Neuntklässler korrekt antworten – bei nur vier Antwort-Alternativen ist das ein miserables Ergebnis.“ Zitiert wird hier zur aus einer „Studie zur Politischen Bildung“ von Jan Kercher in: Spiegel-Online vom 7. 12. 2008, und es ist augenfällig. dass der Sachverhalt „Wissen“ auch vom Autor selbst nicht begriffen worden ist; wovon er nämlich wirklich spricht, was er de facto ermittelt hat (haben will), das sind lediglich Kreuzworträtsel-Antworten, die immer nur Kenntnisse erfragen, und die nach dem Multiple-Choice-Verfahren per se Resultate eines „Ratens“ sind, an dem es auch nichts „Gehobenes“ gibt!

[3] www.wirklich-denken-koennen.de

[4] Eine Illusion die auch in diesem Interview mit der Kinderbuchautorin Cornelia Funke tradiert wird, wenn es heißt:

SPIEGEL: Meinen Sie nicht, dass Kinder beim Bücherlesen eine andere Kulturtechnik lernen – und damit eine andere Art zu denken?

Funke: Wahrscheinlich entsteht am Bildschirm eine andere Art von Denken als in einer Bibliothek. Sie kann aber genauso komplex sein, und sie kann Kreativität schulen und die Fähigkeit zu Teamarbeit.

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