Liebe Foristen
Ich möchte Euch nachdrücklich zum Kauf bzw. zur Lektüre der SZ vom heutigen Tage raten, und dies aus zweierlei Gründen:
Der erste Grund ist die Veröffentlichung des Essays Der Mythos braucht Opfer, er lebt vom Blut. Polen nach dem Tod Lech Kaczynskis und seiner Begleiter: Wir leben in einer erzwungenen Gemeinschaft / Von Olga Tokarczuk, an den man halt nur heute herankommt!
Dieser Essay ist nicht nur ein Beispiel für die Qualifikation, die ich unter wirklich – und nicht: „illusionär“, „voluntaristisch“, „egoistisch“ – denken können propagiere, sondern er enthält konkret auch Erkenntnisse, die meiner Sorge vor einer faschistoiden „Identitätsbildung“ durch die Plappernden Kasten in Politik und Publizistik verständlich machen und auf den Punkt bringen – und zwar nicht nur für die politisch-ökonomischen Verhältnisse in Polen, sondern auch für die Deutschlands.
Hier eine Leseprobe :
„(…) Was ich ringsum sehe, entblößt einen Mangel an alternativen, weltlichen, menschlichen Gemeinschaftsritualen. Es fehlen Rituale, die es den Menschen erlauben würden, das kollektive Trauma einer Katastrophe in der tröstenden Nähe anderer durchzustehen, ohne in das neurotische Theater eines katholischen Nationalismus zu verfallen. Es wird deutlich, wie sehr uns dieser alte Mythos beherrscht, der uns nur vor Leichen, Särgen und auf Friedhöfen zu einigen vermag.
Der Mythos, der blutrünstig und rücksichtslos eine Generation nach der anderen in einen verzweifelten Kampf schickt und mit seiner Feier des Opferstatus den Geruch der Niederlage verbreitet, bevor ein Kampf oder Spiel noch begonnen hat. Der Mythos, der das Selbstwertgefühl zwischen verängstigtem Minderwertigkeitsempfinden und Megalomanie hin und her schwanken lässt. Dieser Mythos braucht Opfer – er lebt vom Blut. Wieder erinnern wir an einen Stamm, der um alte Totems tanzt und die Lebenden ignoriert, weil er nur die Toten zu schätzen weiß. (…)
Olga Tokarczuk, geboren 1962 in Sulechow, zählt zu den wichtigsten polnischen Schriftstellerinnen ihrer Generation. Auf Deutsch erschien von ihr zuletzt der Roman „Unrast“ (2009) bei Schöffling und Co., Frankfurt am Main.
Aus dem Polnischen von Esther Kinsky; Hervorhebungen GW
Also unbedingt die SZ vom 22. 4. kaufen, und dies auch noch aus einem zweiten Grund:
DES TITELBILDES WEGEN,
das man – aufschlussreicher Weise – jetzt nur noch auf der gedruckten, nicht aber auf der elektronischen Ausgabe studieren kann. Zu sehen sind da – in GROßAUFNAHME – ein Herr Guttenberg im Seitenprofil, und neben ihm – in vollen Ornat – ein General McChrystal sowie ein „Generalleutnant Kasdorf (grünes Barrett) und Protokollchef Oberst Hubertus von Rohr“. Unter der Überschrift TOTEN-GEDENKEN (!) ist zu lesen, dass diese vier Herren „in Berlin der gefallenen Bundeswehrsoldaten gedenken (!)“, und dass dies für Guttenberg aber „nur ein Augenblick des Innehaltens“ sei, müsse er doch am Donnerstag, also heute, noch vor den Kundus-Untersuchungsausschuss…. Welch Glück für ihn, dass ihm der „Kommandeur der ISAF-Truppe in Afghanistan“ – von der SZ als DER EISENHARTE verkauft – da gerade gestern noch für dieses schöne Bildchen – „nach 14-stündiger Autofahrt“ (wg. Flugverbots) – aus Paris in dieser seiner schweren Stunde kameradschaftlich zur Seite geeilt ist!? (Tipp: unbedingt lesenswürdig sind die „Leserkommentare“ zu diesem Artikel der SZ!)
Meine Frage: wie oft soll jetzt noch der „armen Frontschweine“ (Selbstbild eines wirklich denken könnenden Landsers) so ostentativ „gedacht“ (!) werden, wie in den zurückliegenden 14 Tagen – und warum in Teufels Namen: WARUM wirkt meine SZ an dieser verdammten Mythenbildung so massiv und nachhaltig mit (und was hat die Redaktion dann wiederum bewogen, das – die Karrierestrategie des größten Freiherrn aller Zeiten promotende – obszöne Foto aus der E-Ausgabe zu entfernen: Scham, Einsicht, eine redaktionelle Panne?!). Wo sie doch diesen hervorragenden Essay abgedruckt hat, in dem es weiter heißt:
(…) Wir werden gerade Zeuge der Entstehung eines Mythos. Vielleicht werden uns zukünftige Soziologen darum beneiden. Wir sehen, wie mit jedem Tag weitere Elemente hervortreten, die zum einen an die Romantik anknüpfen, zum anderen an die nationalen Traditionen der politischen Rechten. Und das alles passiert auf dem Fernsehbildschirm. Das Fernsehen ist inzwischen das einzige wirklich einflussreiche Medium, das allerdings sein eigentliches Vermittlungsziel – die Information – längst aufgegeben hat. Das Fernsehen ist es, das heute vor unseren Augen die Wirklichkeit schafft. (…)
Nicht nur das Fernsehen, liebe Frau Olga Tokarczuk, sondern eben auch die Bilder in den Zeitungen. Übrigens: Wie ich gehört habe, soll bereits in zwei Tagen wieder ein Feldgottesdienst stattfinden, diesmal für vier Landser – und auch wieder im Beisein der Kanzlerin. Wenn das so weitergeht, dann wird wohl der Vizekanzler die Amtsgeschäfte wahrnehmen müssen!?
Und das wird so weitergehen, mit den „für Deutschland“ bzw. fürs raffende Kapital „Gefallenen“!
Und dieses wohlfeile Show-„Gedenken“ wird sich totlaufen, wird zur Farce werden, die dem Image der Kanzlerin genau so schaden wird, wie dem Schröder Gerhard sein unprofessioneller Umgang mit dem „Steuersong“ (2002) geschadet hat.
Merke(l): auch und gerade der, der sich als Bundeskanzler auf die schiefe Bahn der „Berater“ der Plappernden Kaste aus PR und Publizistik begibt, der wird ins Rutschen kommen! Naturgesetzmäßig, Frau Merkel!
Nachtrag vom 29. 08.: Herr Guttenberg ist vorgestern zum vierten Fotoshooting nach Afghanistan geflogen:
http://www.sueddeutsche.de/politik/guttenberg-in-afghanistan-er-kann-das-tragen-1.993499
Endlich ist auch die SZ auf dem Niveau der publizistischen Analyse und Synthese von Zeitphänomenen angelangt, das ich in allen meinen Beiträgen (über Guttenberg und Co.) schon vor Jahren begründet habe: Guttenbergs politisches Kalkül (SZ vom 6. 12. 2011) ist ein hervorragender Artikel von Johan Schloemann.
Die Frage: mit welcher Legitimation?! Es gilt doch der Nato-Vertrag?!
Eine denk- und merkwürdige Analyse:
http://www.zeitkritiker.de/index.php/technik-und-medien/alternative-medien/289-holen-wir-unsere-soldaten-aus-dem-krieg-nach-hause-zeigen-wir-den-maechten-die-weisse-flagge
TRIUMPH DER WIRKLICHEN WAHRHEIT?!
Inzwischen sind auch SPON sowie DER SPIEGEL auf die von mir in SPON vom 8. 4. propagierte Anti-Mythologisierungslinie eingeschwenkt und haben der PR-Strategie des GRÖFAZ widerstanden, leider im Gegensatz zur SZ, deren Kommentator sich nicht erblödete, noch am 24. 4. mit der Schlagzeile aufzumachen „Guttenberg bittet um Verzeihung“. (Vorbildlich allerdings die Veröffentlichung von Kommentaren), die sehr gut die „Kommunikationsstrategie“ von AnMerk und ZuGut aufarbeiten.
In DER SPIEGEL 17 – 2010 hat Barbara Supp unter dem Titel DIE SCHMUTZIGE WAHRHEIT unter anderen die folgenden denkwürdigen Argumente veröffentlichen dürfen:
Dies sind meine Argumente gewesen, doch dass sie übernommen und so hervorragend verbreitet werden, darum geht es jedem, der die Strategie propagiert, derzufolge nicht länger mehr der für die Globalisierungs- und Hegemonialinteressen der Wall Street „Gefallenen“, sondern das jetzt endlich einmal wirklich gedacht wird:
NACHWORT 1
Da wären ja ebenfalls als Feiglinge vor dem Feind noch die Flitschpiepen aus der Willy-Brandt-Gedächtnishütte zu erwähnen, von deren Opinionleader folgende obszöne Unterwerfungsgeste refereriert wird, und zwar glaubwürdig:
Pfui Deibel, Ihr „Volksvertreter“!
NACHWORT 2
Unverzeihlich auch die Feigheit des Kirchendieners gegenüber einer Regierung, die eine „religiöse“ Veranstaltung für ihre miesen Zwecke instrumentalisiert:
Im Stile einer Rosenbergschen Weihefeier betitelt und kommentiert die SZ vom 26. 4. das entwürdigende Beerdigungsspektakel vom Samstag mit: „Die Würde der Stille“:
Pfui Deibel, Ihr „Seelsorger“!
Das war jetzt viel Stoff.
Hinterbliebene mit Fahnen und militärischen Ritualen und den damit einhergehenden Reden trösten zu wollen, war mir schon immer suspekt.
Altare und militärische Einsätze mögen auf dem ersten Blick zwei verschiedene Dinge sein, sind sie aber nicht: in beiden Fällen gibt es Opfer.
Und die „Willy-Brandt-Gedächtnis-Hütte“ ist keine schlechte Wortschöpfung.
Leider.
P. S.
Und ein neuer Mythos entsteht hier eigentlich nicht.
Hier werden nur die gleichen alten Ingredienzen zu neuen Rezepten verarbeitet. Zeitgemäss schmackhaft.
Erweiternd, ergänzend, oder wie auch immer:
http://netzwerkrecherche.wordpress.com/2010/04/19/veraschung/